Das Krisenjahr 1923

Quelle: WOLL Magazin

Wie das Sauerland das Schicksalsjahr der Weimarer Republik erlebte.

Wer gedacht hat, dass wir es in jüngster Zeit mit Corona, Ukraine-Krieg, Energie- und Klimakrise sowie Inflation schon schwer genug hatten, der muss gar nicht mal so weit in die Vergangenheit blicken, um zu erkennen, dass ein einziges Jahr ein gesamtes Land an den Rand des Abgrunds bringen kann. Die Rede ist vom Jahr 1923: Mit der Ruhrbesetzung, Hyperinflation und Putschversuchen wurde die demokratische Regierung Deutschlands über ein Jahr lang von allen Seiten aus belagert. Alle Ereignisse – ob nah oder fern – hatten auch ihre Einflüsse bei uns im Sauerland. Es wurde darüber geredet, man machte sich Sorgen und die schnelle Entwertung des Bargeldes kümmerte auch die Schmallenberger. Dennoch schweigen die überlieferten Quellen zu der Gedankenwelt der einfachen Bevölkerung meistens. Für solche Themen ist man auf Zeitzeugen oder Memoiren angewiesen. Was bei der Annäherung an die Probleme der einfachen Bevölkerung aber helfen kann, ist die Studie der Tagespresse. Damals wie heute waren und sind die Zeitungen das Medium zur Information der breiten Bevölkerung. Wie erfuhr ein Bauer aus Dorlar von der Ruhrbesetzung durch die Franzosen? Was wusste ein Fabrikant aus Schmallenberg über die Regierung? Und welche Informationen erhielt man in Bödefeld über den aktuellen Stand der Währung? Wir wissen es nicht genau, aber durch die Überlieferung der historischen Zeitungen, können wir uns selbst in das Jahr 1923 zurückversetzen und nochmal neu durch unsere eigenen Augen die damaligen Geschehnisse Revue passieren lassen.

Zeitungen als historische Quellen

Zeitungen als historische Quellen spielen häufig nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch können aus ihnen wichtige Informationen gezogen werden. Grade wenn man kein Zeitgenosse ist, sondern die weitere Entwicklung der Geschehnisse kennt. Wann war ein Ereignis der Öffentlichkeit bekannt? Was erfuhr man aktuell darüber und was nicht? Besonders spannend wird dies, wenn man die Sichtweise der Zeitungen abgleicht, mit dem was hinter verschlossenen Türen in der Politik der Zeit beredet wurde. Seit Jahren beschäftigt sich das Projekt Zeitpunkt.NRW mit der Digitalisierung historischer Zeitungen für den Zeitraum zwischen 1800 und 1945. Bisher wurden schon 464 Zeitungen digitalisiert und stehen jedem online zur Verfügung. In Zukunft wird man dort auch alle Ausgaben der Mescheder Zeitung finden können, welche bis in die 1930er Jahre das Informationsmedium der Wahl bei uns in Schmallenberg war.

Ruhrkampf

Am 11. Januar besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, aufgrund ausbleibender Reparationszahlungen. Schnell formierte sich dort Widerstand gegen die Besetzung, welcher auch im Ausland anerkannt wurde: „Die Welt billigt den deutschen Widerstand“ titelt die Mescheder Zeitung am 19. Januar. Nachfolgend balancierte man auf einem schmalen Grad der Unterstützung und Fortführung des Widerstandes („Freund, wo bleibt deine Ruhrspende?“) und der Deeskalation („Selbstachtung, Selbstbeherrschung, Opfersinn und Einigkeit!“), wie die Zeitungen zum 14. Februar respektive 22. Januar schrieben. Durch die Zeitungen wurde mit Schlagzeilen wie „Aus der französischen Folterkammer in Bochum“ (11. April) antifranzösische Stimmung in der Bevölkerung verbreitet. Die Besetzung wird zur Fortsetzung des 1. Weltkrieges stilisiert, dem man sich (anders als noch 1918) nicht ergeben möchte. Bis zur Mitte des Jahres finden sich immer neue Berichte zu den Geschehnissen aus dem benachbarten Ruhrgebiet. Es wird über die internationale Annäherung der Konfliktparteien berichtet und ein sachliches Resümee zu den Gründen und dem Verlauf gegeben, bis am 29. Juni erstmals auf dem Titelblatt kein Bericht zum Ruhrkampf erschien. Dieser wurde im September 1923 offiziell beendet, nachdem eine Erklärung der Regierung auch in den Zeitungen abgedruckt worden war (28. September).

Inflation

Ab März 1923 begann man die Inflation verstärkt zu spüren. Am besten nachzuverfolgen ist dies an den Abo-Preisen für die Mescheder Zeitung: Nachdem man Anfang des Jahres noch 275 Mark für ein Monatsabo zahlte, waren es im März schon 450 Mark plus einen 300 Mark Zuschlag, wegen der gestiegenen Inflation. Vier Monate später waren es schon 4.700 Mark und im November zahlte man 50 Milliarden Mark, bevor durch die Währungsreform die Goldmark eingeführt wurde und man für einen Monat 0,80 Goldmark bezahlen musste. Am 6. Juni wurde in dem Artikel „Wohin treiben wir?“ die Finanzsituation adressiert. Andere große Berichte über das Vorgehen der Regierung fehlen bis Ende September, als das neue Währungssystem vorgestellt wurde.

Regierungskrise

Aufgrund der angespannten politischen Lage durch Ruhrkampf und Inflation, trat die Regierung um Reichskanzler Wilhelm Cuno im August zurück. Wie heikel die Lage wirklich war, fasst die Zeitung am 27. August zusammen, als getitelt wurde, dass die neue Regierung um Gustav Stresemann „Das letzte verfassungsmäßige Kabinett“ sei. Denn falls diese scheitere, „gäbe es nur noch Gewalt“. Auch wenn das Kabinett Stresemann das Jahr 1923 nicht überdauerte (im November folgte nach einer zweiten misslungenen Regierungsbildung das Kabinett um Wilhelm Marx), überstand die Weimarer Republik noch elf weitere Regierungen in zehn Jahren.

Putschversuche

Auch abseits von Berlin sah es 1923 sehr düster um die noch junge Demokratie aus. Während der Ruhrbesetzung kursierten Gerüchte und Ängste um Kommunistische Putschversuche und Gräueltaten (28. Mai) und im November versuchten rechte Kräfte die bayrische Regierung zu stürzen. Am 9. November berichtete die Mescheder Zeitung von den Geschehnissen aus München am Abend zuvor: Bei einer Versammlung im Münchener Bürgerbrauhaus hatte ein ehemaliger Gefreiter, zusammen mit dem Weltkriegsgeneral Erich von Ludendorff die bayrische Regierung als abgesetzt erklärt. Der Marsch am nächsten Tag wurde von der Polizei zerschlagen und die Putschisten festgenommen. „Um Adolf Hitler […], braucht es niemanden leid zu tun, denn er hatte nicht die Qualitäten, Deutschland aus dem Elend herauszuführen“, schrieb die Zeitung am 12. November. Mitleid gab es stattdessen für Ludendorff. Schon zwei Tage später waren die Ereignisse aus München aber wieder aus der Presse verschwunden.

Fazit

Zum Jahresabschluss fasst die Mescheder Zeitung selbst ein Resümee: „Das Jahr 1923 war ein Kriegsjahr.“ Daran erkennt man schon, dass der Ruhrkampf das bestimmende Thema des Jahres, auch hier in der Region war. Auch wenn Schmallenberg nicht im Ruhrgebiet liegt, waren die Ereignisse dort essenziell für die hiesige Bevölkerung. Für das Jahr 1924 hoffte man auf Frieden im Ruhrgebiet, eine sichere Währung und die Konsolidierung der Regierung. Themen die 100 Jahre später immer noch Aktualität besitzen.