„Das konnte doch keiner ahnen.“

MICHAEL DECKER SCHREIBT ÜBER DEN GEFÄNGNISALLTAG

Die schwere Tür fällt mit einem lauten Krachen zu, der Schlüssel dreht sich im Schloss, dann ist es unerträglich still. Das Tageslicht fällt geteilt durch die eisernen Gitterstäbe auf den Betonboden, der Blick schweift durch den karg eingerichteten Raum, eine bedrückende Atmosphäre macht sich breit … Diese Vorstellung ist es, die wir alle vom Gefängnis haben, und da kaum jemand mal in diese abgeschlossene Welt hineingeschaut hat, faszinieren uns Geschichten aus dem Knast ganz besonders. Wie sieht der Alltag der Inhaftierten aus, wie geht das Personal mit dieser belastenden Situation um? Der Lennestädter Michael Decker arbeitet seit vielen Jahren als Justizvollzugsbeamter in einer JVA, nun hat er im WOLL-Selbstverlag das Buch „Das konnte doch keiner ahnen“ veröffentlicht, in dem er unter anderem auch Einblicke in seinen Berufsalltag gibt:

Hinter dicken Mauern

„Vielleicht war ich damals etwas blauäugig, als ich mit Anfang Zwanzig meine Ausbildung begonnen habe. Ich wollte helfen, bei der Resozialisierung unterstützen; damals gab es bei uns nur den offenen Vollzug, die Inhaftierten konnten tagsüber ihre Zelle verlassen und ganz normal arbeiten gehen. 2011 kam dann der geschlossene Vollzug hinzu, die Bandbreite der Verbrechen, die die Insassen begangen hatten, wurde größer – vom Eierdieb bis zum Gewalttäter ist alles dabei“, berichtet Michael Decker.

Nicht immer fällt es leicht, unbefangen mit Straftätern und ihren oftmals düsteren Biografien umzugehen, nicht immer fällt es leicht, jemanden einzusperren und damit wider die menschliche Natur zu handeln – dennoch gehört es zu den täglichen Aufgaben dazu. Den helfenden Gedanken hat sich der Lennestädter dennoch beibehalten und nicht lange gezögert, als sein Arbeitgeber ihm vor vielen Jahren eine zusätzliche Ausbildung zum Krankenpfleger anbot. Für drei Jahre wechselte er von der JVA ins Krankenhaus, wieder ein Alltag geprägt von den unterschiedlichsten Herausforderungen, wieder nah dran am Menschen.

„Als ich dann zum ersten Mal in die JVA zurückkam, saß da eine junge Dame an der Pforte, die mich nicht hineinlassen wollte – ich hatte an diesem Tag weder Uniform noch Dienstausweis dabei. Zuerst reagierten wir sehr verhalten aufeinander, heute sind wir seit zwanzig Jahren verheiratet. Das zeigt, dass der Alltag im Knast nicht nur dunkle, sondern auch schöne Geschichten zu bieten hat“, erinnert sich der Lennestädter.

Das Schreiben hat Michael Decker in den letzten Jahren geholfen, all diese Erfahrungen zu verarbeiten. Stundenlang saß er am Laptop, brachte das Erlebte zu Papier, um es aus dem Kopf zu haben und zur Ruhe zu kommen. Zunächst nur für sich selbst, dann zeigte er die Geschichten seiner Familie und den engsten Freunden. Und damit hatte er nicht gerechnet: Die einen schmunzelten, die anderen hatten Tränen in den Augen – seine Texte weckten Emotionen.

Schreib das auf, haben sie gesagt

Ein eigenes Buch war nicht geplant, doch umso mehr Menschen die lose Blattsammlung in die Hände bekamen, desto mehr reifte der Gedanke daran: „Es geht ja nicht nur um die Arbeit, teilweise sind es sehr persönliche Geschichten. Somit war es am Anfang schwer, auch Außenstehenden meine Texte zu geben. Aber das Feedback war durchweg positiv – außerdem finde ich die Idee sehr schön, dass meine Kinder und Enkelkinder etwas Bleibendes von mir haben, das Buch einfach aus dem Regal ziehen und meine Gedanken nachlesen können!“

So formte sich Kapitel für Kapitel, mal in der Gartenhütte, mal am Schreibtisch. Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen, bis auf eine Episode im Allgäu-Urlaub spielen alle im Sauerland. Und wie im echten Leben auch reihen sich humoristische Anekdoten an fast schon philosophische Gedankengänge: Wir haben Mitleid mit jemandem, der lebensbedrohlich erkrankt ist – ändert die Tatsache, dass er wegen Totschlags in Untersuchungshaft sitzt, etwas daran? Der Autor stellt solche Gedanken nur in den Raum, das Urteil ist dem Leser selbst überlassen!

Und wie ist er dann auf den Titel gekommen? „Egal, in welchem Beruf oder in welchem persönlichen Umfeld, hat uns jeder Tag so viele Überraschungsmomente zu bieten. Oft machen die uns glücklich, manchmal auch traurig, aber genau das macht das Leben ja erst spannend. Wenn wir immer schon vorher wüssten, was kommt, würden wir uns auf vieles gar nicht erst einlassen. Und deswegen zieht sich das wie ein roter Faden durch mein Buch: Das konnte doch keiner ahnen!“