Das hellblaue Mädchen

vom Sauerland nach Moskau

Im August wird Marianne Köhne, geb. Voss, 86 Jahre alt. Wenn die gebürtige Fleckenbergerin an ihre aufregende Vergangenheit denkt, empfindet sie keine Wehmut. Da ist vielmehr die Freude der Erinnerung. Zu Recht, denn Marianne Köhne hat wirklich Unglaubliches erlebt, als sie in den Jahren 1957 bis 1959 an die deutsche Botschaft nach Moskau ging und dort dem Nobelpreisträger Boris Pasternak begegnete. Glückselig blickt die freundliche Uroma heute auf ihr „Leben in all seiner Vielfalt, seiner Schönheit und Härte“ zurück – so zumindest beschreibt sie es im Vorwort zu ihrem Buch „hellblau“, das im Spätsommer im WOLL-Verlag erscheint.

Marianne Voss ist gerade einmal 14 Jahre alt, als in einer kalten Novembernacht im Jahr 1949 die Werkstatt ihres Vaters mitsamt dem Holzlager abbrennt. Während sie im Kindesalter an manchen Tagen im Wald spielt oder verträumt auf einer Wiese liegt, fliegen an anderen Tagen feindliche Bomber über das kleine Dorf, in dem Köhne aufwächst. Als gleich zu Kriegsbeginn der Vater eingezogen wird, fühlt sich die junge Marianne als älteste Tochter dafür verantwortlich, der Mutter in dieser schweren Zeit unter die Arme zu greifen. Sie ist fleißig, hilft bei der Kartoffelernte, hütet das Schaf, das die Familie mit Milch und Wolle versorgt. Trotz der bescheidenen Lebensführung ist sie zuversichtlich – und ahnt nicht, dass sie irgendwann etwas wagen würde, für dessen Mut sie heute viele bewundern.

Als Wirtschafterin bei der Deutschen Botschaft in Moskau

Dass sie eines Tages dem russischen Schriftsteller Boris Pasternak begegnen würde, ist für Marianne Köhne auch heute noch ein übergroßes Glück, wie das Strahlen ihrer Augen zeigt. Doch wie kam es zu dieser außergewöhnlichen Bekanntschaft, die sie in ihrem Buch „hellblau“ festgehalten hat? Da der jungen Marianne Voss das Lernen leichtfiel, besuchte sie die höhere Schule in Schmallenberg. Doch dem Vater fiel es schwer, das benötigte Schul- und Fahrtgeld sowie die Auslagen für Bücher aufzubringen, sodass sich die junge

Schülerin nach der Mittleren Reife dazu entschloss, Geld zu verdienen. Eine Anstellung in einer florierenden Textilfabrik machte die finanzielle Situation erträglich, doch die eintönige Fabrikarbeit erfüllte sie nicht. Als der Vater den Verlust der abgebrannten Werkstatt einigermaßen überwunden hatte, machte Köhne 1954 eine Ausbildung als Hauswirtschafterin in einer Küche. In der Zeitung las sie dann von einer Stelle als Wirtschafterin für das europäische Ausland. Und so ergab es sich, dass sie im September 1957 nach Moskau fuhr, um dort in der deutschen Botschaft einen neuen Job anzutreten.

Dort angekommen, ist die junge Sauerländerin überwältigt von der riesigen Hauptstadt, diesem großen Häusermeer. „Das Neue lockte mit tausend Stimmen, Düften, Absonderlichkeiten“, beschreibt sie ihre Eindrücke in ihrem Buch. Magisch zieht sie der Kreml an, gierig saugt sie die Bilder und Gerüche Moskaus auf, genießt die verbotenen Kontakte zu jungen Russen, lernt die fremde Sprache. Das familiäre Umfeld war über die Reise nach Moskau entsetzt, ausgerechnet das Land, an dessen Front zwei Onkel gefallen waren. „Heute bin dankbar dafür, dass meine Eltern mich haben ziehen lassen“, sagt Marianne Köhne.

„Das war höllisch gefährlich.“

Dankschreiben von Boris Pasternak

Ihre Neugier und Unbefangenheit war zu Zeiten des Kalten Krieges nicht immer ungefährlich: So machte sich die wissbegierige junge Frau durch eine Begegnung in der Osternacht mit der Nonne Natalja, die ihr all die schrecklichen Zustände und Repressalien schildert und sie darum bittet, ihren Appell nach außen zu tragen, sehr verdächtig: „Das war höllisch gefährlich.“ Doch Marianne Voss folgt ihren Gefühlen, will sich für das Richtige einbringen, auch wenn sie das manchmal in brenzlige Situationen bringt. „Ich musste helfen“, beschreibt sie ihren Ansporn.

„In der internationalen und deutschen Presse wurde 1958 die Nobelpreisverleihung an den russischen Dichter Boris Pasternak ausgeschlachtet. Pasternak erhielt den Preis für Literatur, musste ihn dann aber ablehnen. Wir Freundinnen wollten daraufhin unbedingt das Umfeld des Dichters auf uns wirken lassen und fuhren raus nach Peredelkino, zu seinem Wohnort. Dort trafen wir auf eine Babuschka, eine ältere Dame, von der wir ein Foto machten. Und weil sie keinen Stift besaß, klopfte sie an die Datscha von Pasternack, um ihre Adresse zu notieren.“ Dieses Erlebnis läutete den Beginn der Bekanntschaft ein, die fortan zwischen Marianne Voss und dem Nobelpreisträger, dem jeglicher Kontakt zu Ausländern verboten war, ihren Lauf nahm. Pasternaks Bitte an Voss, einer Brieffreundin aus Berlin einen lieben Gruß zu bestellen, schlägt sie nicht aus. Als „Botin der Freundschaft“ sendet sie Briefe an Renate Schweitzer, deren Antworten durch sie ihren Weg zu Pasternak finden. „Manchmal muss man sich von seinen Gefühlen leiten lassen“, erklärt die 85-Jährige im Rückblick. „Das ganze Drama um ihn, die Ablehnung durch den Staat, der Kalte Krieg … Ich habe mich dazu verpflichtet gefühlt.“

So findet die hilfsbereite Marianne Voss später sogar in seinen Briefwechseln Erwähnung. „Hellblau“ ist ihre Erscheinung in seinen Augen, was die Fleckenbergerin zu dem Titel ihres Buches bewegt hat. Später schenkte er ihr ein Brautkleid und den Schleier. Doch „Hellblau“ ist vielmehr als nur ihre Bekanntschaft mit Pasternak, nämlich auch die Lebensgeschichte einer jungen, mutigen und neugierigen Frau aus dem Sauerland, die es nach Moskau zog und die wieder zurückkehrte.