Bewegung – Begegnung – Berührung – Bessere Welt

Wie sich der Maler Thomas Jessen mit dem Phänomen Corona auseinandergesetzt hat.

Für die WOLL-Winterausgabe 2019 hatten wir dem Esloher Künstler Thomas Jessen „Fünf Fragen auf der WOLL-Bank“ gestellt. Als ob WOLL-Redakteurin Andrea Gödde-Kutrieb schon damals, im Herbst 2019, die bevorstehende Krise geahnt hätte, stellte sie dem bekannten Maler unter anderem die Frage: „Andere nutzen das Malen zum Abschalten vom normalen Alltag, wie und womit erreichst Du das?“ Thomas Jessens Antwort, durchaus erstaunlich für einen bekannten und anerkannten Maler: „Ich mache Musik. Ich spiele Trompete im Blasorchester St. Peter und Paul, außerdem bin ich Mitglied der Parforcehornbläser Homert. Beides ist eine tolle Sache und unterscheidet sich völlig von meiner Arbeit im Atelier, bei der ich sehr mit mir beschäftigt und im Tunnel bin. Wie aus vielen einzelnen Instrumenten ein großes Ganzes entsteht, und die Gruppendynamik dabei zu spüren, das ist schon faszinierend. Ich erinnere mich an unseren Auftritt mit den Parforcebläsern vor gut einem Jahr im Kölner Dom. Das war Gänsehaut pur. Für uns Musiker, aber auch für die Zuhörer. Ein tolles Erlebnis.“ – Das war vor der Corona-Krise. Was würde Thomas Jessen, der aktuell wegen seiner Arbeiten für einen großen Altar in Drolshagen mehrmals im Rampenlicht stand, im Frühjahr 2021 auf diese Frage antworten?

WOLL: Seit über einem Jahr verfolgt uns Tag für Tag, immer und überall, ein Thema: Corona. Was hat Corona mit dem Esloher Maler und Bürger Thomas Jessen gemacht?
Thomas Jessen:
Ich male immer noch. Weil eine große Ausstellung spontan abgesagt wurde, fiel bei mir nur der zeitliche Druck weg, die Bilder für die Ausstellung noch fertigzustellen. Zum Abschalten spiele ich immer noch Trompete, jetzt natürlich alleine. Das Blasorchester und die Parforcehornbläser durften ja nicht mehr proben und an gemeinsame Auftritte war schon gar nicht zu denken. Es wurde alles stiller, so leer, so weit weg. Keine Gemeinsamkeiten, schwindende Lebendigkeit, allenfalls einsame Fröhlichkeit. Irreal.

WOLL: Und was inspiriert dich für deine Arbeit?
Thomas Jessen:
Früher hätte ich immer gesagt: Es sind unsere Landschaft und die Natur. Die Berghänge, nicht schroff, sondern fast wie mit Bedacht in die Landschaft gestreut, das findet man sonst nirgendwo. Das inspiriert mich heute nach wie vor, aber in meinem Kopf sind immer mehr Bilder von Menschen, die mit den Folgen der Corona-Maßnahmen zu kämpfen haben. Ganz zu Beginn der Corona-Maßnahmen ist mir vor einem Restaurant irgendwo im Moseltal ein Schild mit der Aufschrift „Abstand ist Anstand“ ins Auge gestochen. Diese Gleichsetzung von Abstand und Anstand ärgerte mich und hat mich herausgefordert.

WOLL: Das musst du uns etwas genauer erklären. Hat sich die Stimmung der Menschen auf deine Werke ausgewirkt?
Thomas Jessen:
Der geforderte Abstand bei Begegnungen von Menschen hat zu surrealen Verhaltensregeln geführt. Kein Händeschütteln mehr, stattdessen der Ellbogengruß, sind wir jetzt in einer Ellbogengesellschaft? Plexiglasscheiben trennen uns von unserem Sitznachbarn. Kein Gesang mehr in den Kirchen und desinfiziertes Weihwasser (wenn überhaupt noch erlaubt). Kein Sport – Einzeltennis teilweise erlaubt, Doppel nicht. Besonders skurril finde ich die Forderung, von der ich gelesen habe, die Maske selbst beim Besuch eines Bordells aufzusetzen. Die Vorstellung, dass die intimste Begegnung zweier Menschen, der Sexualakt, mit Maske stattfindet, das kann man nur als Satire begreifen. Im Internet habe ich auf Pornokan len sogenannte Homemade-Seiten gesucht. Also Filmchen, die Pärchen zuhause (wahrscheinlich in Quarantäne) von sich selbst gedreht haben und sie beim Liebesspiel zeigen. Interessant waren dabei die zufälligen Wohn- und Schlafzimmereinrichtungen, die immer wieder die typisch regionalen kulturellen Lebenswirklichkeiten der Menschen beschreiben. So habe ich mich durch die ganze Welt geklickt. Die die Menschheit verbindende Sehnsucht nach Liebe, Sex und Berührung hat dann zu einer Serie von kleinen, leisen, unspektakulären Gemälden geführt, die Fingerübungen gleich täglich wie ein Tagebuch entstanden. Abstand ist nicht Anstand. Menschliche Existenz braucht Nähe, auch in der Angst und Sterblichkeit. Nachdem ich fünfzig Bilder fertiggestellt hatte, habe ich die Serie vorerst gestoppt. Mal sehen, ob ich sie im Herbst bei der nächsten Corona-Welle wiederaufnehme.

WOLL: Von der Landschaftsmalerei plötzlich zur vulgären Aktmalerei, ist das nicht ein unglaublicher Sprung?
Thomas Jessen:
Es geht bei den Bildern nicht um Aktmalerei, sondern um das weltumspannende Alltäglichste der Welt. Aus dieser Besch ftigung mit den Liebespaaren im Allgemeinen sind dann konkretere, existentielle Serien entstanden. Sie zoomen sozusagen das Gesicht wieder in den Vordergrund. Ich bin ja auch Portraitmaler. Die drei existentiellen Lebensereignisse – Geburt, Liebesakt und Tod – schreiben  hnliche Gesichtszüge auf das menschliche Gesicht. Bei der Geburt kommt das Kind verknautscht zur Welt, beim Orgasmus verzerrt sich das Gesicht sehr  hnlich und mit diesem Gesichtsausdruck wird auch gestorben – drei  hnlich „angespannte“ Ausdrucksformen, die unsere Existenz umgrenzen. Niemand möchte sich selbst so sehen. Und niemand möchte so gezeigt, geschweige denn gemalt werden! Vielleicht, weil man in diesen Momenten so ganz und gar bei sich ist, jeder macht das alleine durch, möchte so nicht gesehen werden und kann das auch nicht teilen – und somit nicht mitteilen. Danach dann, das entspannte Kind auf dem Bauch der Mutter, das befriedigte Einschlafen nach dem Akt und schließlich die sich nach dem Todeskampf entspannenden, seligen Gesichtszüge. Drei entscheidende Stationen unseres Lebens. Aus diesem Grundgedanken sind zehn Trilogien entstanden. Sie sind im übertragenen Sinne auch Ausdruck einer stetigen Auseinandersetzung mit den tieferen Schichten der Corona-Problematik. Die Motive zeigen den Blick durchs Fenster, der Betrachter darf dadurch aus sicherer Entfernung auf diese intimen Bilder schauen. Im Fenster spiegelt sich auch das Gesicht des Künstlers. Er übernimmt die Rolle des Tabu-Brechers, des Voyeurs, wenn man so will. Die Bilder glänzen extrem. So spiegelt sich schließlich dann doch auch der Betrachter selbst: Je näher er sich an das Bild heranwagt, umso deutlicher werden seine Konturen.

WOLL: Und was haben diese Bilder außerdem mit der Corona-Krise zu tun?
Thomas Jessen: Ich habe das Gefühl, dass manche Menschen froh sind, dass es Corona gibt. Dann muss man sich nicht mehr die Hand geben und so weiter. Je mehr es gelingt, den Anderen auf Abstand zu halten, umso weiter kann man die Fragen nach der eigenen Existenz von sich selbst fernhalten. Beziehungsf higkeit und Empathie werden schwierig. Wir sind uns alle einig, dass es auf der Welt zu viele Menschen gibt, oder? Also bin ich zu viel? Oder nur die Anderen? Der Andere wird zur Gefahr, zum Infektionsrisiko. Also muss ich dessen Freiheit einschränken und damit auch meine: Maske tragen, impfen, Abstand halten. Und niemand scheint zu merken, dass er sich selbst und seine eigene Existenz in Frage stellt. Es ist entsetzlich, wie leichtfertig die überw ltigende Mehrheit der Menschen bereit ist, ihre Grundrechte preiszugeben. Jetzt wird diskutiert, wem die Freiheiten zurückgegeben werden. Dabei gibt es die sogenannten drei Gs: Genesen, Getestet, Geimpft. Das vierte G ist scheinbar abgeschafft: GESUND. Damit wird der anders Denkende, der anders Empfindende zur Gefahr. Ihm gebe ich nicht mehr die Hand, sich bei der Begrüßung zu umarmen oder sogar zu küssen ist jetzt gefährlich und tabu. Alle Lebendigkeit ist ausgebremst. Die Kinder, die so aufwachsen, werden sich eine andere Gesellschaft schaffen. Wenn die Lebendigkeit schwindet, geht es dann nur noch ums überleben?

WOLL: Was können wir dagegen tun? Wie kommen wir wieder zurück zu einer Normalität, wie du sie bei unserem Gespräch vor anderthalb Jahren beschrieben hast? (Herbst 2019 – Auf die Frage: „Thomas, manche Menschen sind ganz erstaunt darüber, dass du als namhafter Künstler doch so „normal“ bist. Was erdet dich hier im Sauerland?“ – Die Antwort damals: „Das kann man selber natürlich schwer beantworten, aber ich glaube, es sind die Menschen. Ich liebe Menschen, bin gerne mit ihnen zusammen und höre auch gerne zu. Die Menschen im Sauerland sind mir als gebürtigem Westfalen sehr nah. Man kennt mich hier, hält ein Pläuschken beim Einkaufen oder auf Festen. Ich bin im Vereinsleben aktiv und genieße das sehr. Wahrscheinlich erdet mich das tatsächlich.“)
Thomas Jessen: Wenn ich die Antwort von damals höre und lese, merke ich, dass ich traurig werde. Glauben wir wirklich, dass das alles wieder möglich sein wird? Sich ungezwungen auf dem Fußballplatz beim Tor der Heimmannschaft in den Armen liegen? Bei den Schützenfesten zur Musik schunkelnd mitsingen? Oder gar bedenkenlos aus dem Bierglas des Kumpels trinken? In der Schule dem hustenden und schniefenden Kind Nähe und Beistand vermitteln? Ich hätte nie gedacht, wie schnell sich gesellschaftliche Enge und Angst ausbreitet und etabliert. Das wird auch Folgen für die Freiheit der Kunst haben. Unvoreingenommenheit und Offenheit sind essentielle Voraussetzungen für Kreativität und auch für die Begegnung mit Kunstwerken. Wir opfern zurzeit sehr viele Errungenschaften unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung und ich sehe nicht, wo das enden wird. Abstand ist Anstand? Nein.

WOLL: Ich danke dir ganz herzlich für das Gespräch und die offenen Worte.

Wer ein aktuelles Werk des Künstlers Thomas Jessen sehen möchte, kann sich ab sofort zur St. Clemens-Kirche nach Drolshagen aufmachen. Dort ist der zu Pfingsten eingeweihte, 4,10 Meter hohe und 5 Meter breite Flügelaltar des Sauerländer Malers zu betrachten und er bietet hervorragende Möglichkeiten, sich mit der eigenwilligen Symbolik der Altarbilder von Thomas Jessen auseinanderzusetzen.