Quelle: Fotoatelier Saša Fuis, Köln
Heinrich Maria Davringhausen | Schwester Maria, schlafend | um 1916 Foto: Fotoatelier Saša Fuis, Köln
„ZERRISSENE TRÄUME“ bildet nach „August Macke – ganz nah“ und „Im Westen viel Neues“ den Abschluss der Expressionismus-Trilogie im Sauerland-Museum. Diese Ausstellung weitet den Blick auf die kunsthistorischen Wirkungen des Aufbruchs in die Moderne und die Einflüsse der historischen Ereignisse auf das künstlerische Schaffen.
Historische Einordnung
Die deutsche Kunstgeschichte des 20. Jahrhundert besticht mit einem zuvor unerreichten Variantenreichtum. Die großen Neuerungen in der Kunstproduktion begannen 1905 mit fulminanter Durchschlagskraft, als die ersten Ausstellungen der Künstlergruppe „Die Brücke“ in Dresden die interessierte Öffentlichkeit überwältigten. Sie begründet den „Expressionismus“, wie er erst später bezeichnet wird. Die sie treibende Idee formulierten die Künstler in einem kurz gefassten Programm, in dem es heißt: „Mit dem Glauben an Entwicklung an eine neue Generation […] rufen wir alle Jugend zusammen und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Beinfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften.“ Das Revolutionäre in ihren Bildkompositionen bezog sich auf das Abrücken von der Lokalfarbigkeit und die Deformation als Gestaltungsprinzip. Letztere prägte vor allem ihre Druckgrafik und mit ihren Holzschnitten erlangte die deutsche Kunst erstmals seit Albrecht Dürer wieder weltweite Beachtung.
Sechs Jahre später verstanden sich Wassily Kandinsky und Franz Marc als „Der Blaue Reiter“, auch sie im Selbstverständnis eine Gemeinschaft, die mit den Traditionen der Kunstakademien brach, um sich neuen künstlerischen Ausdrucksformen zuzuwenden bis hin zur Abstraktion. 1912 veröffentlichten sie dazu ihren gleichnamigen Almanach, der zu einem der wichtigsten Manifeste moderner Kunst geriet. „Der Blaue Reiter“ verstand sich als offene Gemeinschaft, die von Anfang an auch internationale Beziehungen pflegte, vor allem zu französischen und russischen Kollegen. Das zeigten ihre beiden Ausstellungen von 1911 und 1912. Man träumte von weltumspannendem Austausch. Diesen Traum zerriss der Ausbruch des Ersten Weltkriegs – bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn fiel August Macke, 1916 Franz Marc, 1917 Wilhelm Morgner, um nur drei Exponenten des Aufbruchs in die Moderne zu nennen.
Museumsleiter Dr. Oliver Schmidt erläutert den Zeitpunkt der Ausstellung: „Dass sich in diesem Jahr der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 110. Mal jährt, ist für das Sauerland-Museum Anlass, seine Darstellung in der Kunst ausführlich zu würdigen.“ Wie er zum ersten Mal durch die Massenproduktion industriell hergestellter Waffen zu unvorstellbaren Materialschlachten mit Millionen Toten, zuvor nie gekannten Verwundungen und Traumata führte, so sah auch eine Vielzahl von Künstlern die Auseinandersetzung damit in den Mitteln der neuen expressionistischen Kunst, der es gelang, diese Erfahrungen in vielerlei Hinsicht hautnah zu vermitteln: So hielten sie ihr inneres Erleben und Fühlen an der Front für alle und für alle Zeit im Bild fest. Der Traum von einer friedlichen Welt war zu einer Utopie geworden.
Mit der Revolution am Ende des Krieges keimten neue Hoffnungen auf. Es ist ein bis heute noch kaum in den Blick genommenes Phänomen, wie der Rückgriff auf die seit dem Jahrhundertbeginn neue Bildwelt des Expressionismus eine jüngere Generation erfasste, wobei ihr einige der „Gründungsväter“ zur Seite standen. Zum ersten Mal glaubten weite Kreise der Künstlerschaft daran, mit ihrem Schaffen die Welt verändern und auf eine bessere Gesellschaft hin wirken zu können. Nach und nach mussten sie jedoch erfahren, dass ihre Ideale einer offenen, kulturaffinen Gesellschaft keinen Widerhall fanden: Lange lebte die Masse der Menschen auch in der Weimarer Republik am Rande des Existenzminimums. Wieder zerplatzten die Träume von einer freieren Welt, dieses Mal an den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten.
Mit der Machtübertragung an Adolf Hitler beginnt die „Gleichschaltung“, die in allen Bereichen der Kultur rückwärtsgewandt, romantisch naiv, spießbürgerlich Vorgaben machte. Alle Bereiche des Aufbruchs in die Moderne (Kunst, Literatur, Musik) versah er mit dem Etikett „entartet“. Bereits in seiner Programmschrift „Mein Kampf“ hatte der spätere Reichskanzler in ihnen „Zerfallserscheinungen der arischen Rasse“ ausgemacht, die es auszumerzen gälte, sie dem Einfluss des Judentums und des Bolschewismus zugeschrieben. Davon war besonders der Expressionismus betroffen. Ab 1937 wurden in Beschlagnahmeaktionen über 20.000 Kunstwerke als „degeneriert“, die „Volksgesundheit zersetzend“, beschlagnahmt. Eine Auswahl davon wurde auf insgesamt 35 Femeschauen angeprangert, deren unrühmlicher Höhepunkt die Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München war.
Ein weiteres Mal zerriss der Traum der Künstler, der es in der Weimarer Republik immerhin bis zu einem bis dahin nicht gekannten Variantenreichtum an Ausdrucksformen gebracht hatte. Stattdessen waren sie Repressionen ausgesetzt, mussten sich samt und sonders durch die „Reichskammer der bildenden Künste“ gängeln lassen. Für jene, die aufgrund ihrer Herkunft oder politischen Einstellung an Leib und Leben bedroht waren, blieb nur die Möglichkeit der Emigration. Von denen, die sie nicht wählten oder denen sie nicht gelang, kam eine ungezählte Anzahl in KZs ums Leben; einige wählten den Suizid. – Ein Teil derer, die im Lande verblieben, passte sich an oder zog sich in die „innere Emigration“ zurück.
Nur Wenigen gelang es nach dem Ende der NS-Diktatur, an ihre Schaffenskraft vor 1933 anzuknüpfen. Der Soester Eberhard Viegener schuf mit der wiedergewonnenen Freiheit noch ein respektables Alterswerk.
Zur Ausstellung
Die Ausstellung wird gemeinsam mit dem Gestaltungsbüro Matthies Weber & Schnegg aus Berlin konzipiert und mit dem Sammler Dr. Gerhard Schneider kuratiert. Die klassische Sammlungspräsentation ergänzt das Museum um eine dynamische Gestaltung aus Farben, Medien, begleitenden Tischvitrinen und einen Vermittlungszugang für Kinder.
Das für die Ausstellung ausgewählte Titelmotiv „Schwester Maria, schlafend“ von Heinrich Maria Davringhausen befindet sich bereits im ersten Ausstellungsraum zum Blick auf den frühen Expressionismus bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und gibt exemplarisch Auskunft über die Vielfalt der Stilmittel und Ausdrucksformen, die die Expressionisten entwickelten.
Seit vermutlich rund 100 Jahren erstmals öffentlich zu sehen ist das Werk „Verwundeter Kavallerist am Wasser“ (1917/18) von Lorenz Bösken, das lange in der Versenkung verschwunden war und mit Größe, Farbgebung und Darstellung den Mittelpunkt der Ausstellung zur Verarbeitung des Ersten Weltkriegs bildet.
In künstlerisch hellsichtiger Weise führt im letzten und größten Ausstellungsraum das Werk „Der Abgrund“ (1935) von Georg Netzband dem Besucher vor Augen, dass durch die Politik des „Dritten Reichs“ die Menschheit nicht nur vor einem Abgrund steht, sondern bereits von ihm verschlungen wird.
Die insgesamt etwa 170 Werke aus der umfangreichen Sammlung von Gerhard Schneider umfassen äußerst seltene, zum Teil noch nie öffentlich gezeigte Ölbilder und Grafiken, so zum Beispiel frühe Grafiken des Künstlers Josef Albers oder auch Werke von Künstlern wie Max Pechstein, Florenz Robert Schabbon und Käthe Kollwitz.
Sammlung Gerhard Schneider
Die Sammlung Gerhard Schneider stellt mit über 6.000 Kunstwerken zum gesamten 20. Jahrhundert einen kaum vergleichbaren Bestand dar. Das hervorstechende Merkmal dieses Fundus besteht in der Verbindung von hohem künstlerischen Gestaltungsanspruch und der Wiedergabe historischer und gesellschaftlicher Ereignisse. Neben einer Reihe renommierter Namen wie Beckmann, Heckel, Kandinsky, Kirchner, Marc, Morgner, Pechstein, Schmidt-Rottluff oder Rohlfs findet sich eine kaum zu benennende Zahl von nahezu Unbekannten.
Dr. Gerhard Schneider zu seiner umfangreichen Sammlung: „Insbesondere deren Wirken und ihre Wiederentdeckung zeigen, in welchem Umfang Meisterleistungen in unserer Erinnerung nicht mehr präsent sind.“
Rahmenprogramm
Das umfassende Rahmenprogramm ergänzt die Ausstellung um künstlerisch-kreative Angebote. Sowohl tänzerische als auch lyrische Ausstellungsführungen bereichern die bildende Kunst um weitere, darstellerische Ebenen.
Im Januar liest der Kölner Literat Stephan Schäfer aus „Die Ermordung einer Butterblume“ von Alfred Döblin, der als Wegbereiter des Expressionismus in der Literatur gilt und dessen Texte bereits 1910/1911 in der Zeitschrift Der Sturm von Herwarth Walden publiziert wurden.
Die schillernde Persönlichkeit Alma Mahler steht im Mittelpunkt einer weiteren Lesung im Februar. Alma Mahler war zunächst mit dem Komponisten und Wiener Operndirektor Gustav Mahler verheiratet, hatte eine Affäre mit dem Bauhaus-Architekten Walter Gropius, den sie nach Mahlers Tod und einer Liaison mit dem Maler Oskar Kokoschka heiratete. Nach der Scheidung von Gropius wurde sie die Ehefrau des Schriftstellers Franz Werfel, mit dem sie gemeinsam in die USA auswanderte. Die Lesung beleuchtet einige der Facetten dieser „großen Dame“, indem sie den autobiographischen Texten Alma Mahlers Stimmen aus ihrer Umgebung und verschiedene Klavierstücke an die Seite stellt.
Regelmäßige öffentliche Führungen durch die Ausstellung runden das Angebot ab.
Die Ausstellung wird gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.