Auf der Suche nach Sprunginnovationen

Rafael Laguna de la Vera über Herkunft, Unternehmen
und das Sauerland

Text von Hermann-J. Hoffe und Carla Wengeler – Fotos: Klaus-Peter Kappest

Rafael Laguna de la Vera ist ein erfolgreicher Unternehmer der IT-Branche. Vor wenigen Monaten wurde er von der Bundesregierung zum Direktor der Agentur für Sprunginnovationen ernannt. 2005 hat der Sauerländer zusammen mit Frank Hoberg die Open-Xchange AG gegründet. Seit 2008 ist er auch CEO des Herstellers von Open Source-Software, der weltweit 270 Mitarbeiter beschäftigt. Die WOLLRedakteure trafen sich mit Rafael Laguna de la Vera am Firmensitz in Olpe und sprachen mit ihm über seine berufliche Laufbahn und die Zukunft in der Digitalwirtschaft.

WOLL: Der Name Laguna de la Vera klingt für Sauerländer Ohren sehr ungewöhnlich. Stammen Sie von hier?
Laguna de la Vera:
Es ging tatsächlich nicht im Sauerland los. Der Opa mütterlicherseits kam aus dem Sauerland, ich wurde in Leipzig geboren. Mein Vater ist Spanier. Deshalb hat uns die spanische Botschaft in Ostberlin 1974 die Familienzusammenführung und damit die Ausreise aus der DDR ermöglicht. Wir sind zu einer Tante meiner Mutter nach Bleche gekommen. Mein Bruder Carlos hat sich dafür eingesetzt, dass wir bleiben. Aus der Zwischenstation Sauerland wurde Heimat.

WOLL: Was haben Ihre Eltern Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Laguna de la Vera:
Meine Eltern haben 1976 die erste Skateboard-Firma Deutschlands namens „Californian Products“ gegründet. Diese Sensation hat in Bleche ihren Anfang genommen. Daran sieht man auch eine der Stärken des Sauerlandes: Das ganze Dorf hat damals die Keller freigeräumt und dort Werkbänke installiert. Alle haben Skateboards zusammengeschraubt. Meine Eltern sind Unternehmertypen; sie arbeiten mit über 80 Jahren immer noch als Übersetzer.

WOLL: Seit 2005 entwickeln Sie am Standort Olpe innovative Software. Wie kam es dazu?
Laguna de la Vera:
Nach dem Abitur gab es zwei Optionen: Bundeswehr oder Zivildienst. Ich bin Zivi geworden und zur Arbeiterwohlfahrt nach Olpe gegangen. Dann habe ich mit Freunden ein halbes Jahr lang in Attendorn das Apollo-Kino betrieben. Nach einem eiskalten Winter mit –25 °C mussten wir zumachen, weil uns die Heizkosten über den Kopf wuchsen. Folglich hatte ich Schulden und war auf Jobsuche. Hacker war ich schon immer, seit 1976 baute ich mir Computer zusammen. Bei der Olper IT-Firma dicomputer habe ich zusammen mit den beiden Gründern ein Kassensystem auf PC-Basis für den Getränkefachhandel entwickelt. Wir haben mit Nixdorf und Philips gearbeitet und uns auf den Mikrocomputer fokussiert. Früher musste man alles selbst machen: Hardware, Tastatur und den Bondrucker. Ich habe das Betriebssystem und auch den Grafiktreiber selbst geschrieben – technologisch anspruchsvoll, aber spannend. Nach dem Zivildienst wollte ich Informatik studieren, am liebsten in den USA, aber das war unbezahlbar. Stattdessen bin ich dann an die Uni Dortmund gegangen. Allerdings war es keine Informatik, die dort gelehrt wurde, sondern Mathematik. Zum Glück kamen die Inhaber von dicomputer auf mich zu und boten mir ein Drittel der Firma an. Da habe ich nicht lange gezögert. Ich habe aus meinem Netzwerk noch ein paar Leute mit ins Team gebracht, die Kassen fertiggestellt und sehr erfolgreich verkauft.

WOLL: Wie verlief Ihre berufliche Laufbahn dann weiter?
Laguna de la Vera:
dicomputer wuchs stark, doch nach Meinungsverschiedenheiten mit einem Mitgesellschafter bin ich Ende 1988 gegangen. Mit 24 Jahren habe ich bei Micado in Bonn angefangen, die meine Arbeit bereits kannten. Durch Projektarbeit habe ich ein Jahr am Großrechner bei der Provinzial Versicherung in Münster gelernt. Nach einer Zeit im Consulting habe ich die Leitung der Entwicklungsabteilung übernommen, für Kommunikationsprotokolle wie Datex-P und ISDN haben wir Karten, Hardware und Software gebaut. Dann bin ich 1992 Geschäftsführer und Anteilseigner geworden, war also wieder Unternehmer. Ein amerikanisches Unternehmen hat die Firma 1995 gekauft und ich habe gelernt: Wenn man wirklich Geld verdienen will, muss man eine Firma verkaufen. Ich habe einen Fünfjahresvertrag unterschrieben, es wurde internationaler, was mich gefreut hat. Wir kamen dann nach Columbia, South Carolina. Ich wurde für eine formale Uni-Ausbildung nach Harvard geschickt, für einen speziellen Kurs für zwei oder drei Monate. Die wollten mich dann zum Vorstand machen, aber die Bezahlung war absurd hoch und die Kultur inkompatibel mit meinen Werten, deshalb habe ich abgelehnt.

WOLL: Wie ging es zurück ins Sauerland?
Laguna de la Vera:
In Köln habe ich meine Frau kennengelernt, eine Sauerländerin. Nach der Heirat sind wir nach Engelskirchen-Berghausen gezogen. Quasi in die Mitte zwischen Köln und Sauerland. Ich finde die Großstadt schön, aber nach drei Tagen nervt sie mich und ich muss weg. Unsere ländliche Gegend ist perfekt dafür. Ein Nachteil des Sauerlandes ist, dass man ein bisschen länger braucht, um irgendwohin zu kommen. Im Jahr 2001 brach dann der neue Markt an der deutschen Aktienbörse zusammen. In dieser Zeit sprachen mich zwei Banker aus München an, die gerade 100 Millionen Euro für den Venture Capital Fonds von der HypoVereinsbank bekommen hatten. Ich habe mir gesagt: Das ist die perfekte Zeit zum Investieren. Wenn alle wegrennen, sind die Preise unten. Das erste Projekt war eine Firma in Nürnberg, die Suse Linux AG, die ein „Open Source“-Betriebssystem zusammengebaut hat.

WOLL: Also startete dann das bahnbrechende Kapitel „Open Source“?
Laguna de la Vera:
Meine Zeit bei Suse Linux hat mich nachhaltig mit dem „Open Source-Virus“ infiziert. Wenn man als kleiner Unternehmer was ausrichten will, dann muss man etwas machen, was anders ist als das, was die Großen machen. Open Source ist eine solche, genial andere Methode, es hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Ein befreundeter Banker hat mich an Frank Hoberg vermittelt. Seine Olper Firma hieß Netline und belieferte Unternehmenskunden unter anderem mit E-Mail-Lösungen. Dazu kombinierte Netline ein Linux-Betriebssystem mit selbst entwickelten E-Mail-und Kalender-Anwendungen. Ich hatte angefangen zu verstehen, wie Open Source geht und wie man es vertreibt, wie man damit Geld verdienen kann. Wir hatten 60 Produkte bei der „Suse“, aber kein Mail-Produkt. Also habe ich Frank den Auftrag gegeben, mit Suse zusammen ein Mail-Produkt zu bauen.

WOLL: Und anschließend entstand Ihre Firma „Open-Xchange“? Was ist das Besondere daran?
Laguna de la Vera:
Als die Open-Xchange 2005 entstand, wurde sie sehr schnell groß. Man fragt sich vielleicht, wie man Anbietern wie Google-Mail oder Microsoft-Mail Konkurrenz machen kann. Die Antwort ist: mit Open Source. Im Gegensatz zu den großen Konzernen entwickeln wir Software, die für jeden zugänglich ist, inklusive dem menschenlesbaren Code. Das ist eine fantastische Grundlage für Informatiker und Entwickler. Wenn man will, kann man jedes Feedback nutzen, einbauen und das weiterentwickelte Produkt wieder freigeben. Macht man das lange genug, entwickelt sich das gerne so wie bei uns, dass man nämlich für eine Problemlösung die mit Abstand beste Software gemacht hat, weil die ganze Welt daran mitgearbeitet hat. Vor allen Dingen sieht man Nutzungsszenarien, die man sich als Hersteller niemals hätte selber ausdenken können. Was Leute mit unserer Software machen, erstaunt mich immer wieder. So haben wir das für Mail-, Kalender- und Office-Anwendungen und für DNS, das Telefonbuch des Internets, gemacht. Wir sind jetzt 15 Jahre dabei und inzwischen nutzen 75 Prozent aller E-Mail-Server der Welt unsere Software. Das sind 2,7 Milliarden E-Mail-Accounts.

WOLL: Wie funktioniert das wirtschaftlich?
Laguna de la Vera:
Das Geschäftsmodell von Open-Xchange war zuerst ähnlich wie das von Netline und den meisten anderen Softwareherstellern. Die Software gab man an Unternehmen, diese installierten sie auf ihrem Server in ihrem eigenen Rechenzentrum. Ich hatte Glück, 2006 den Chef der Hosting- Firma 1&1 kennenzulernen. Die haben mich mal ins Rechenzentrum blicken lassen, dort ist mir das Gebiss rausgefallen: Ich kam auf die Idee, dass es bei einer Internet-Software ja völlig egal ist, wo der Server steht, wo das Back-End ist. Heute nennen wir das Cloud und es ist ganz normal, aber vor 13 Jahren war es eine echt neue Erkenntnis für mich. Andreas Gauger, damals CEO von 1&1, hat uns bei Open-Xchange vertraut und hat uns Geld gegeben, um eine E-Mail-Software für die „Cloud“ zu bauen. Das Problem: Unsere Software war für ein paar hundert User gemacht, 1&1 hatte aber damals schon mehr als fünf Millionen. Entsprechend mussten wir investieren, um unsere E-Mail-Software von Grund auf neu zu entwickeln. Heute können wir sagen, dass der Plan aufging. Viele der größten Internet-,Kabel- und Telekommunikationsanbieter auf der ganzen Welt sind seit Jahren unsere Kunden.

WOLL: Open Source gehört also die Zukunft?
Laguna de la Vera:
Man macht mit dem Open-Source-Modell die beste Software. Techniker mögen uns. Warum? Weil wir Open Source sind. Man kann nicht mal eben eine Hintertür einbauen, weil alles transparent und offen ist. Zudem müssen wir uns überlegen, wie wir unsere Datensouveränität im Zeitalter der Digitalisierung behalten können. Das geht nicht mit irgendwelchen geschlossenen Systemen. Ich glaube, diese Erkenntnis ist gereift. Der Quellcode ist für alle lesbar. Sie brauchen kein Vertrauen vorauszusetzen, weil man alles selbst überprüfen kann. Unser Slogan ist „Stay Open“. Das Prinzip der Firma ist, dass das Internet auf offenen Protokollen basiert, die niemandem gehören, die kein Einzelner kontrolliert und die damit dem Nutzer große Freiheit und Kontrolle ermöglichen.

WOLL: Sie arbeiten gerade an einem neuen Projekt …
Laguna de la Vera:
Die Idee hatte ich 2015, habe sie aber erst wieder vergessen. Doch dann, anderthalb Jahre später, habe ich noch mal wirklich angefangen zu entwickeln. Wir nennen es „Chat over IMAP“, oder kurz COI, fast wie der Fisch. Messaging ist Messaging, E-Mail ist Messaging. Wir wollen ein einheitliches Nachrichtensystem schaffen, das übergreifend ist. Für viele ist E-Mail das mit den langen Texten und Chat das mit den kurzen Texten. Was wir nun machen: Wir haben 75 Prozent aller E-Mail-Server, erweitern das E-Mail-Protokoll und bauen da alles rein, was man für einen Realtime-Chat braucht. Wir sind mit COI nun in der Beta-Phase, die dauert so lange, bis es richtig gut ist. Aber wir haben viele, die an den Protokollerweiterungen mitarbeiten. Wir werden das dann freigeben und in unsere Software miteinbauen.

WOLL: Seit kurzem sind Sie Direktor der Agentur für Sprunginnovationen, die von der Bundesregierung ins Leben gerufen wurde. Was genau ist die Aufgabe dieser Agentur?
Laguna de la Vera:
Die Aufgabe ist, in Deutschland wieder Innovationen zu erzeugen, die uns den Wohlstand für die nächsten Jahre sichern. Dass es uns heute nicht schlecht geht, liegt daran, dass wir inkrementell die Erfindungen von vor über 100 Jahren immer weiter verbessert haben. Aber alle Sprunginnovationen der Neuzeit – das Internet, Mikrocomputer, elektrische Autos – haben wir verpennt.Wir machen fantastische Grundlagenforschung, aber neue Märkte erzeugen die anderen. Wir erfinden mp3 vor 30 Jahren, aber wir machen kein Spotify, kein Apple Music. Da besteht Verbesserungspotential.

WOLL: Und Sie sind Ansprechpartner für die Ministerien, wenn es darum geht, das voranzutreiben?
Laguna de la Vera:
Ich bin der designierte Direktor. Die Gründungskommission wurde von Professor Harhoff vom Max-Planck-Institut geleitet. Der meinte, ich solle mit dazukommen. Dann war ich von diesem Projekt so begeistert, dass ich aus der Gründungskommission ausgetreten bin und mich für die Position des Chefs der Agentur beworben habe. In den kommenden Monaten müssen wir die Agentur erstmal aufbauen. Wir wollen die Umsetzung von tollen Ideen in wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen. Letztlich dreht sich alles um die Menschen, die solche Ideen haben. Die wollen wir sichtbar machen. Sie sitzen in den Universitäten und Instituten. Aber vielleicht kommt auch ein Manager aus einem Unternehmen auf uns zu, der sagt: Wir haben so eine tolle Idee, aber ich kann sie im Kontext meiner Firma nicht umsetzen.

WOLL: In Deutschland geht es mit der Innovation zu langsam voran. Wie beurteilen Sie die Wirtschaftslandschaft im Sauerland?
Laguna de la Vera:
Die Stärke hier sind die Familienunternehmen. Wenn die im Familienbesitz bleiben können, erzeugt das eine Langfristigkeit. Ich glaube, viele Länder beneiden solche Regionen wie das Sauerland. Um den Mittelstand und die Firmen, die von ganzen Regionen betrieben werden. Das ist einzigartig in Deutschland.

WOLL: Was würden Sie versuchen, im Sauerland zu ändern, wenn Sie Landrat des Kreises Olpe oder Regierungspräsident in Arnsberg wären?
Laguna de la Vera:
Ich würde mir über zukunftsweisende Verkehrskonzepte Gedanken machen. Die Agentur für Sprunginnovationen könnte eigentlich auch in Olpe ihren Sitz haben, aber man kommt nur schwer hier hin. Wir müssen den Metropolen etwas entgegensetzen, denn die Grundlage für eine hohe Lebensqualität haben wir hier. Wir haben tolle Mitarbeiter, hier gibt es die guten Sauerländer, die guten Sauerländer Biere. Natürlich ist auch die Internetanbindung verbesserungsbedürftig. Wir mussten bei Open-Xchange am Standort Olpe viel Geld ausgeben, damit wir überhaupt richtig angebunden sind. Die Digitalisierung ist eine Riesenchance, weil es immer weniger wichtig ist, wo man sich befindet. Das sollte man nicht verpassen.

WOLL: Was würden Sie jungen Menschen raten, die ihren Platz in der Welt finden wollen?
Laguna de la Vera:
Man muss weg von der Vorstellung, dass man einen Beruf lernt und dann seinen Job macht. Man lernt ewig, muss dranbleiben und Veränderungen als Normalität empfinden. Die Welt wird sich dramatisch verändern, und wer da pfiffig ist – Sauerländer sind das –, für den ergeben sich riesige Chancen. Man muss eben nicht denken, dass einem andere erzählen, wie es geht. Ich würde die Nase in die große weite Welt stecken, um mitzukriegen, wie die Dinge laufen, das Herz öffnen und sagen: Das finde ich cool. Dann kann man das nach Hause transportieren und hier umsetzen.

WOLL: Wir bedanken uns für dieses äußerst interessante Gespräch und bleiben gerne mit Ihnen in Kontakt, um zu erfahren, wie es mit den Sprunginnovationen weitergeht.