Amtsrichter-Geschichten: Die wehrhafte Seniorin

Quelle: pixabay

Ein Anruf vom Ordnungsamt: Eine alte Dame, allein in einem kleinen Haus ansässig, gefährde sich selbst und andere. Der zuständige Facharzt für Psychiatrie befinde sich vor Ort und sei bereit, die Notwendigkeit einer Unterbringung zu bestätigen. Und auch der Krankenwagen sei bestellt. Also alles Routine. Mal eben hinfahren, klingeln, einpacken und fertig.

Das Häuschen stand an einem Steilhang. Zu dieser Seite hin lag das Schlafzimmer der alten Dame. Nach Berichten aus der Verwandtschaft sei sie immer etwas sonderlich, bisher aber friedlich gewesen. Doch in letzter Zeit habe sie auf Ansprache aggressiv reagiert und jetzt habe man sie schon ein paar Tage nicht mehr gesehen und mache sich doch Sorgen. Die Haustür sei verschlossen und auf Klopfen habe die Seniorin nicht reagiert.

Um der Sache auf den Grund zu gehen, entschloss sich ein junger Mann, entfernt mit der Vermissten verwandt, durchs Fenster des Schlafzimmers zu schauen, ob sie vielleicht dort läge und Hilfe bräuchte. Er schleppte also eine Leiter herbei, richtete sie am Böschungskopf auf und lehnte sie geräuschvoll gegen das Fensterbrett. Dann krabbelte er neugierig die Sprossen hoch.

Genau in dem Moment, als er sich auf Fensterhöhe befand, wurde das Fenster aufgerissen, man sah, wie ein Besen Anlauf nahm und die Leiter schwungvoll vom Haus wegstieß. Der verdatterte Jüngling klammerte sich an die Holme und landete nach ungewolltem Sturzflug unsanft in der Böschung. Nachdem er sich wieder berappelt hatte, schimpfte der uneigennützige Fensterl-Retter wie ein Rohrspatz, denn zu allem Überfluss hatte die wehrhafte Seniorin ihm in urchristlicher Weise hinterhergerufen: „Der Herr sei mit dir!“

Offenbar hatte die Dame einen guten Draht nach oben – immerhin war der Verstoßene unverletzt geblieben.

Für den geschulten Psychiater gab es angesichts dieses Szenarios keinen Zweifel mehr: Der gemeingefährlichen Frau musste geholfen werden. Ein Schreiner wurde gerufen, der die Haustür öffnete – und sich in Kenntnis des soeben erfolgten „Sauerländer Fenstersturzes“ sofort zurückzog. Und auch der resolute Mann vom Ordnungsamt hatte gelernt: Er zog seinen Parka aus, hängte ihn über einen Besen und schob selbigen durch die Haustür. Und schon sauste eine Sichel in die Schulterpartie des unschuldigen Kleidungsstückes. Furchtlos kämpfte sich der Beamte weiter und schließlich gelang es ihm, die sichtlich empörte Verteidigerin zu fassen.

Für die alte Dame ging die Chose glimpflich aus: Nach kurzer Behandlung konnte sie wieder in ihre Trutzburg entlassen werden. Denn letztendlich hatte sie, nüchtern betrachtet, nur ihr in der Verfassung garantiertes Recht auf Eigentum wahrgenommen … 

Das Buch „Wahre Fälle eines Sauerländer Amtsrichters“ von Udo Poetsch und Werner Riedel können Sie im Sauerländer Buchhandel oder im WOLL-Onlineshop erwerben: https://woll-onlineshop.de/wahre-faelle-eines-sauerlaender-amtsrichters-von-udo-poetsch-und-werner-riedel/#

Nachruf auf Udo Poetsch

Im Alter von 76 Jahren verstarb Mitte November Amtsrichter Udo Poetsch in seinem neuen Wohnort Olpe. Der langjährige Richter in Strafsachen und Direktor des Amtsgerichtes Lennestadt wurde im Jahre 1944 in Meggen geboren. Der passionierte Jäger, Menschen- und Naturfreund bewies in seiner Amtszeit ein feines Gespür für die Mentalität seiner Sauerländer Landsleute. Amtsrichter Udo Poetsch war 34 Jahre im Dienst, unter anderem in Gelsenkirchen und Plettenberg. Die letzten 29 Jahre davon am Amtsgericht Lennestadt in Grevenbrück. Unter seiner Ägide wurde der Neubau dieses Gerichtes verwirklicht. Hier wurde fortan Recht gesprochen über die großen und kleinen Verfehlungen der fast 60.000 Bürgerinnen und Bürger in den Nachbarkommunen Kirchhundem, Lennestadt und Finnentrop.

Im Mittelpunkt seiner Arbeit stand für Udo Poetsch stets der Mensch. Der respektvolle Umgang mit den Angeklagten jeglicher Couleur war eine herausragende Charaktereigenschaft. Legendär war sein feinsinniger Humor.

In dem Buch mit dem Titel „Wahre Fälle eines Sauerländer Amtsrichters“ aus dem WOLL-Verlag erinnert sich Poetsch an die zahllosen humorvollen Dönekes und Vertellekes aus den Sitzungssälen „seiner“ Gerichte.

Poetsch hinterlässt seine Frau und zwei Söhne.