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Es war wahrlich kein unbeschriebenes Blatt, was auf der Anklagebank Platz nahm. Bereits als Jugendlicher hatte er wegen einer Reihe von Dumme-Jungen-Streichen Sozialarbeit verrichten müssen. Später lernte er gesiebte Luft im Jugendarrest kennen. Jetzt ließ er erstmals als Erwachsener die Justiz arbeiten.
Der Staatsanwalt warf ihm gemeinschädliche Sachbeschädigung vor. Mit einem Stein sollte er die Seitenscheibe einer Telefonzelle eingeworfen haben. Eine derartige Kommunikationszentrale dient der Allgemeinheit. Ergo: gemeinschädliches Verhalten. Drei Zeugen standen parat. Das Kuriose daran: Keiner davon hatte die Tat vollständig beobachten können. Der erste hatte als Hobby- Schrauber unter seinem Auto gelegen, als er es klirren hörte. Kurz darauf sah er auf der anderen Seite der ansonsten menschenleeren Straße den Angeklagten mit beiden Händen in den Hosentaschen. Der zweite hatte bei verschlossenem Fenster seine Musikanlage aufgedreht, während er nach draußen schaute. Dabei sah er die zersplitterte Scheibe der Telefonzelle und auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Angeklagten – die Hände in den Hosentaschen. Der dritte hatte aus einer Entfernung von rund 50 Metern zufällig aus dem Fenster geschaut und gesehen, wie der Angeklagte einen Stein in Richtung der anderen Straßenseite schleuderte. Ob er die Telefonzelle getroffen hatte, konnte die weibliche Zeugin jedoch nicht sagen.
Der Angeklagte bestritt die Tat. Er war sicher: Solange kein Zeuge ihn von A bis Z beim Steinwurf und dessen Folgen beobachtet hätte, sei er freizusprechen. Schließlich gelte der Satz „In dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Sprach’s und warf einen triumphierenden Blick in Richtung Richtertisch. Der Amtsrichter hakte nach:
„Wie erklären Sie sich, dass die Scheibe kaputtgegangen ist?“ „Im Sauerland gibt es so viele schießwütige Jäger. Vielleicht ist eine verirrte Kugel eingeschlagen.“ Der Staatsanwalt bewies ironisches Talent: „Könnte nicht vielleicht auch ein kleiner Meteorit eingeschlagen sein?“ „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ein weiterer Grund, mich wegen zusätzlicher Zweifel an meiner Täterschaft freizusprechen.“ Der Hinweis des Richters, dass eine Verurteilung erfolgen könne, wenn kein vernünftiger Zweifel an der Täterschaft bestehe – auch wenn nicht alle Fakten bis ins Letzte aufgeklärt seien – wischte der junge Mann beiseite. Der Staatsanwalt probiert es bei dem frisch Verheirateten mit einem Gleichnis: „Stellen Sie sich einmal vor: Wenn Sie jetzt nach Hause kommen und neben Ihrer Frau ein nackter Mann im Bett liegt, der sagt, dass er nur auf den Bus wartet, können Sie das nicht völlig ausschließen. Ob Sie ihm das glauben, ist eine andere Frage.“ Dann beantragte er eine saftige Geldstrafe, zu der der Angeklagte auch verdonnert wurde. Erstaunlicherweise akzeptierte dieser das Urteil klaglos und verzichtete auf eine Berufung. Danach erhob er sich und verließ schnellen Schrittes den Gerichtsaal. Worauf der Staatsanwalt lakonisch feststellte: „Jetzt schaut er sicher sofort nach, ob daheim einer auf den Bus wartet …“
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