Als Ärztin von Essen ins Sauerland

Lebensqualität: Was Stadt und Land unterscheidet

Kindheit – Abenteuer – spielen – draußen sein: einfach schön. Das sind die Jugenderinnerungen von Dr. Jutta Sebastian ans Sauerland. Mit ihren Eltern verbrachte sie immer wieder mal einen Urlaub am Fuße des Rothaargebirges. Urlaube in Spanien und in Oberbayern waren spektakulärer, aber die schöneren Erinnerungen entstanden im Sauerland, „obwohl es manchmal geregnet hat“. „Mit der Hand im Bach Fische fangen“ war für sie einer der Höhepunkte. Ihr Lebensmittelpunkt aber war immer die Stadt. Gelebt hat sie in Hannover und im Ruhrgebiet. Dort hat sie Medizin studiert und in verschiedenen Kliniken als Anästhesistin im Operationssaal und Leiterin einer Intensivstation gearbeitet.

Vom Essener Süden ins Sauerland

Ein solcher Beruf fordert und man braucht kleine Auszeiten. Gemeinsam mit ihrer Mutter mietete sich die Essener Ärztin deshalb 2018 eine Ferienwohnung in Oberkirchen – ein fester Rückzugsort in die Idylle ihrer Kindheit. Als sie dann durch Zufall ein Baugrundstück im gleichen Ort bekommen konnte und eine passende Stelle am St. Walburga Krankenhaus in Meschede frei war, traf sie eine Entscheidung, die Freunde und Kollegen sehr überraschte: der Umzug aus einer traumhaften Wohnung im Essener Süden in die „abgelegene Bergwelt am Kahlen Asten“. Heute ist sie Oberärztin für Anästhesie und Intensivmedizin in Meschede. Ihr neues Haus in Oberkirchen wächst. Die Reaktionen aus ihrem Umfeld waren zuerst recht verhalten. Von „Das ist aber mutig“ wandelten sie sich über: „Ins Schmallenberger Sauerland? Da war ich schon mal, da ist es schön“ bis zu „Man merkt, dass du da richtig angekommen bist“.

„Man läuft hier nirgends vor eine Wand.“

Nach der Motivation für diesen mutigen Schritt gefragt, wird ihre Begeisterung für ihre neue Wahlheimat deutlich. Was macht für sie das Sauerland aus? „Wunderschöne Landschaften, traumhafte Ausblicke und Orte, die man immer wieder sehen möchte und die man vermisst, wenn man wegfährt. Vor allem aber die Menschen: bodenständig, konservativ und trotzdem dem Neuen sehr zugewandt. Es muss aber nicht ständig was Neues sein, das dann irgendwie unsolide ist.“ Den finalen Ausschlag für die Entscheidung zum Umzug gab schließlich die herzliche Aufnahme im Ort Oberkirchen. „In den Städten ist man viel einsamer. Alles ist anonymer und distanzierter. Man kommt hier in die Dorfgemeinschaft wunderbar rein, wenn man sich dafür interessiert. Natürlich muss man sich selber einbringen, aber man läuft nirgends vor eine Wand. Ich bin nicht verheiratet. Das heißt, ich werde irgendwann älter und allein sein. Davor habe ich aber überhaupt keine Angst. Alle im Ort passen aufeinander auf. Wenn was ist – ein Beinbruch zum Beispiel – gibt es immer jemanden, der Einkäufe und Essen vor die Tür stellt.“

Angenehmere Arbeitsatmosphäre auf dem Land

Einen Unterschied im Umgang miteinander beobachtet Frau Dr. Sebastian auch bei der Arbeit: „Die Arbeitsatmosphäre ist wesentlich freundlicher, nicht so distanziert, weniger konfliktträchtig, sehr angenehm, familiär.“ Wenn das so ist, stellt sich natürlich die Frage, warum nicht mehr Ärzte diesen Schritt gehen. Die Wahl-Sauerländerin vermutet: „Man studiert in der Stadt, findet dort einen Partner. Und Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind, haben oft Vorurteile dem Land gegen über. Stadtkinder wollen oft einfach nicht aufs Land. Und speziell Ärzte haben Angst vor Hausbesuchen und Nachtdiensten.“

Was trifft zu und was nicht?

Dr. Jutta Sebastian hatte nun zwei Jahre lang die Gelegenheit, die Vorurteile zu überprüfen. Und was aus der Großstadt vermisst sie hier? „In Essen gibt es schöne Ecken, in denen ich mich immer wohlgefühlt habe. Hier fühle ich mich aber deutlich wohler. Die Aufnahme durch die Menschen war unheimlich nett und zugewandt. Man findet schnell Anschluss und wenn man mal was sucht: Man hat kurze Wege. Ein Vorurteil gegenüber dem Land ist, dass hier alle Wege so lang seien. Beim Hausbau merke ich jetzt: Es ist umgekehrt! Man hat immer jemanden, den man fragen kann, wer was hat und wo man was bekommt. Es gibt sehr gute Betriebe, die sowohl dem Kunden als auch dem Arbeitnehmer sehr viel bieten. In der Stadt ist es schwierig, Handwerker zu finden, die Zeit haben, und fast unmöglich, welche zu finden, die dann noch wirklich gute Arbeit abliefern. Das ist hier ganz anders. Auch das Einkaufen ist im Sauerland angenehmer. Man bekommt alles direkt am Ort. In Essen ist das Angebot auf den ersten Blick größer, es ist aber viel Unsolides dabei. Hier sind einfach die Qualität und die Beratung besser.“

Die bessere Lebensqualität

Ein anderes Vorurteil betrifft die eingeschränkten Freizeitangebote im ländlichen Raum. Auch das sieht die Ärztin ganz anders: „Meine Hobbys sind das Radfahren, Wandern, Fotografieren. Hier ist man viel schneller bei den Freizeitmöglichkeiten als in Essen. Ein Opernhaus fehlt, sonst hat man alles da. Konzerte und Theater werden angeboten – nicht so häufig wie in der Stadt, dafür aber oft sogar in besserer Qualität und mit besseren Chancen auf Karten. Hier fährt man vielleicht ein paar Kilometer mehr ins Kino, Konzert oder Theater, aber die Fahrzeit ist in Essen eher länger: Ampeln, Staus, ausfallende Busse. In der Stadt ist es quirliger, aber die Lebensqualität ist hier besser. In der Lebensphase, in der man die Party- und Clubszene zu brauchen meint, kommt man hier natürlich nicht auf seine Kosten. Für Familien mit Kindern hingegen ist das ein Paradies. Die Kinder hier sind merklich ausgeglichener.“

Der Wohlfühlfaktor überwiegt

Als gewichtiger Grund gegen ein Leben auf dem Land wird oft die ausgedünnte medizinische Versorgung genannt. Dazu hat die ehemalige Essenerin eine differenzierte Meinung: „In der Stadt ist die medizinische Versorgung vordergründig besser, weil es mehr Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte gibt. Die Qualität ist aber nicht überall gegeben. Bei Notfällen weiß ich hier durchaus, wo ich auf kurzem Weg hingehen würde, und für geplante Dinge kann man auf Qualität im weiteren Umfeld zurückgreifen. Aber natürlich wäre es besser, wenn die Versorgung engmaschiger wäre.“ Hausärzte, Notärzte, Rettungsstationen – im medizinischen Bereich gibt es auf dem Land Verbesserungsbedarf. Das größte Problem ist dabei der Personalmangel. Aber vielleicht ändert sich das ja, wenn mehr Ärzte die Erfahrungen von Dr. Jutta Sebastian lesen. Ihr Fazit ist jedenfalls: „Ich fühle mich hier sehr, sehr, sehr wohl!“