Ältester Toxikologie-Standort der Welt mitten im Sauerland

Das Geheimnis des Wilzenbergs

Welche gefährlichen Rückstände sind in unseren Lebensmitteln? Welche Schadstoffe sind im Boden? Welchen Einfluss hat dieser oder jener Stoff auf unsere Natur? Dies sind Fragen, die uns Menschen seit jeher bewegen. Gerade auch in diesen Tagen. Wer hier nach Antworten sucht und sich nicht mit Allgemeinplätzen zufriedengeben mag, kommt an einer Sauerländer Forschungsstätte nicht vorbei. Hoch oben, am Fuße des sagenumwobenen Sauerländer Wilzenberges bei Schmallenberg, hat sich im Schatten der uralten Kultstätte vor 60 Jahren ein Forschungsinstitut niedergelassen, das heute als Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und angewandte Ökologie (IME) weltbekannt ist. Forscher mit Sinn für schwarzen Humor halten das Schmallenberger Institut sogar für den ältesten Toxikologie-Standort der Welt.

Wie das Fraunhofer-Institut ins Sauerland kam

Im Jahre 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Im gleichen Jahr, am 26. März, erfolgte in München durch Vertreter aus Industrie und Wissenschaft, des Landes Bayern und der gerade entstehenden Bundesrepublik die Gründung der Fraunhofer-Gesellschaft in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Aus den 103 Mitgliedern der Gründungsversammlung hat sich bis heute die größte Organisation für angewandte Forschungs- und Entwicklungs-dienstleistungen in Europa mit rund 28.000 Mitarbeitenden entwickelt. Joseph von Fraunhofer (1787–1826) war als Forscher, Erfinder und Unternehmer gleichermaßen erfolgreich und wurde zum Vorbild und Namenspatron dieser weithin anerkannten Forschungs-Gesellschaft, die unter den vier Säulen des deutschen Freiheitssystem den anwendungsbezogenen Part übernimmt.

Der Fraunhofer-Standort für Angewandte Ökologie in Schmallenberg-Grafschaft entstand 1959 aus einem Labor zur Erforschung der Staublungenerkrankung. Der damals am Klosterkrankenhaus Grafschaft tätige Chefarzt Karl Bisa gründete vor 60 Jahren das Institut für Aerobiologie der Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung auf dem Gebiet der orientierten Grundlagenforschung gegenüber chemischen, aerogenen und radiologischen Umwelteinflüssen auf biologische Systeme. Was lang und umständlich den Forschungshintergrund beschreibt, hie. als Einrichtung damals im sauerländischen Volksmund „Rattenburg“, weil dort auch an lebenden Ratten geforscht wurde. Der heutige Institutsleiter Professor Christoph Schäfers konnte im vergangenen Jahr neben dem 60-jährigen Institutsjubiläum gleichzeitig sein 25-jähriges Dienstjubiläum an der sauerländischen Forschungsstätte feiern. Als Kenner der wechselvollen Geschichte des IME in Schmallenberg-Grafschaft weist er nicht nur seine amerikanischen Freunde gerne darauf hin, dass der Platz am Wilzenbeg der älteste Toxikologie-Standort der Welt ist. Schließlich übergab die damals im Schmallenberger Land herrschende Gräfin Chuniza dem Erzbischof Anno von Köln vor rund 950 Jahren den Baugrund, auf dem heute das Fraunhofer-Institut steht, zur Gründung des Klosters Grafschaft. Der Legende nach soll die Edeldame Chuniza im Wahn nacheinander sieben Ehemänner mit Gift ermordet haben. Schmunzelnd meint Professor Sch.fers dazu: „So leisten wir heute an historischer Stätte mit unserer Forschung an Wirkstoffen in gewisser Weise Abbitte für das frevlerische Treiben der Edeldame Chuniza.“

Millioneninvestitionen für führendes Umweltinstitut

Noch bis zum kommenden Jahr dauern die aktuellen Erweiterungsarbeiten am IME an. Rund 32 Millionen Euro sind in neue Institutsgebäude geflossen. Ein Teil der bisherigen Gebäude wurde abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Neben der Renovierung der alten Gebäude entstehen unter anderem ein neues, viergeschossiges Laborgebäude, ein Ver- und Entsorgungshof, Lagerhallen, Parkplätze und eine neue Institutsmitte mit Seminarräumen, einer Cafeteria und einer Bibliothek.

Der heutige Arbeitsschwerpunkt zielt auf die Erkennung und Beurteilung der Risiken synthetischer und biogener Stoffe für die Ökosysteme und die umweltbezogene Belastung von Verbrauchern. Dabei fungiert der Institutsteil als wissenschaftlicher Vermittler zwischen behördlicher Regulation und industrieller Produktion, indem er beide Kundengruppen unabhängig berät und maßgeschneiderte Lösungen zur Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen entwickelt. Dabei handelt es sich um Test- und Bewertungskonzepte, die Entwicklung und Validierung international anerkannter Testverfahren sowie die Erzeugung qualitätsgesicherter Daten für die Zulassung. Zunehmend werden auch Screening-Verfahren für Substanzkandidaten der chemischen Industrie entwickelt, um mögliche Nebenwirkungen auf die Umwelt frühzeitig zu erfassen und durch gerichtete Auswahl zu minimieren. Die Erforschung, Erfassung und Bewertung von Stoffeigenschaften wie Persistenz (Langlebigkeit in der Umwelt), Bioakkumulation (Anreicherung in Pflanzen und Tieren) und Toxizität (Giftigkeit gegenüber Pflanzen und Tieren) ermöglichen umweltpolitische Entscheidungen, die diesen Stoffeigenschaften Grenzen setzen und so als Leitplanken für zielgerichtete Innovationen dienen.

Prof. Dr. Schäfers äußert sich zur positiven Entwicklung des Fraunhofer-Instituts in Schmallenberg

Die Fragestellungen ergeben sich in der Umweltrisikobewertung von Chemikalien, vor allem auch bei Wirkstoffgruppen wie Pflanzenschutzmitteln, Bioziden und Tier- und Humanarzneimitteln. Daneben wird die Aufnahme dieser Stoffe in Nutzpflanzen, Nutztieren und daraus erzeugten Lebensmitteln untersucht, speziell auch die Bildung möglicherweise schädlicher Ab- und Umbauprodukte. Die Kernkompetenzen zur Erledigung dieser Aufgaben werden von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Chemie (Analytik, Lebensmittelchemie, Molekularchemie), Biologie (Molekular-, Mikro-, Populationsbiologen, Zoologen, .kotoxikologen), Agrarwissenschaft (Pflanzen-, Tierproduktion), Ernährungswissenschaft und Mathematik gestellt, die in den folgenden Abteilungen arbeiten:
• Ökologische Chemie
• Ökotoxikologie
• Umweltmikrobiologie
• Bioakkumulation und Tiermetabolismus
• Umwelt- und Lebensmittelanalytik
• Umweltprobenbank und Elementanalytik

Die leitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten Lehrveranstaltungen an verschiedenen Universitäten und Hochschulen und binden wissenschaftlichen Nachwuchs in Forschung und Lehre ein. Professuren bestehen zurzeit an den Universitäten Münster, Siegen und Melbourne (Monash), enge Kooperationen bestehen mit oder werden ausgebaut nach Aachen (RWTH), Wuppertal, Gießen, Bielefeld und Frankfurt sowie Osnabrück, Hamm-Lippstadt und Bingen.

Umweltprobenbank des Bundes

Im Auftrag des Umweltbundesamtes ist das Fraunhofer IME in Schmallenberg-Grafschaft seit Anfang 2000 für die Lagerung der Umweltproben der Umweltprobenbank des Bundes verantwortlich. In diesem Archiv werden tierische und pflanzliche sowie Bodenproben in speziellen Tanks über Flüssigstickstoff bei Tiefsttemperaturen von unter -150 ÅãC gelagert (Cryolagerung). Dazu werden die Proben, die jährlich aus repräsentativen marinen, limnischen und terrestrischen Ökosystemen genommen werden, unter tiefkalten Bedingungen zu Homogenaten verarbeitet (Cryomahlung). Die Homogenate werden auf gesundheits- und umweltrelevante Stoffe analysiert, wobei am Fraunhofer IME Elemente und Elementspezies, wie z.B. Quecksilber, Cadmium, aber auch kritische organische Verbindungen wie beispielsweise perfluorierte Chemikalien analysiert werden. Die Untersuchungsergebnisse der Umweltprobenbank können als Begründungen für umweltpolitische Ma.nahmen verwendet werden, wie etwa Nutzungsbeschränkungen von Chemikalien.

Das älteste bestehende Fraunhofer-Institut nördlich des Mains

Nach den frühen Anfängen vor 60 Jahren als Institut für Aerobiologie in Schmallenberg beschäftigt das Fraunhofer IME heute (Stand Ende 2019) an den Standorten Aachen, Schmallenberg, Gießen, Münster, Frankfurt und Hamburg insgesamt 533 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (185 in Schmallenberg), davon 54 Prozent weiblich. Die Wirtschaftserträge liegen im Geschäftsjahr 2019 mit 14,1 Millionen Euro auf konstant hohem Niveau. Das Fraunhofer IME erzielte im vergangenen Geschäftsjahr einen Wirtschaftsertragsanteil von 41 Prozent. In Schmallenberg betrug er sogar 56,3 Prozent, was innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft zu den Spitzenwerten zählt. Die Freude über und der berechtigte Stolz auf diese bereits über Jahre von ihm und seinem Team erreichten Werte sind dem Standortleiter, Professor Christoph Schäfers, sichtlich anzumerken. „Mit unseren Sauerländer Technikerinnen und Technikern und unserer partizipativen Verantwortungskultur haben wir hier in Schmallenberg durchaus einen echten Standortvorteil. Das Berufskolleg Olsberg bildet die von uns benötigten Mitarbeitenden aus, die meist einen Arbeitsplatz im Sauerland anstreben.

Das Fraunhofer IME, Bereich Angewandte Ökologie ist für viele ein Wunscharbeitsplatz. Wir haben die Möglichkeit, durch Abschlusspraktika bei uns die Kompatibilität von Absolventen und Absolventinnen mit unseren Arbeitsfeldern zu testen. So haben wir im Vergleich zu anderen Standorten eine sichere Ressource für engagierte, bleibewillige und verlässliche Techniker und Technikerinnen. Über Haushalts- und Strategieprozesse gestalten wir unsere Bereichssitzung Angewandte Ökologie demokratisch. Ideen diskutieren wir in unserem Strategiekreis aus Abteilungsleitenden sowie Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftlern. Umsetzungen organisiert unser operationales Team aus allen Abteilungen und der Qualitätssicherung. Dadurch erzeugen wir ein gemeinsames Selbstverständnis und einen großen Rückhalt gemeinsamer Entscheidungen. Auch von der Fraunhofer-Zentrale in München wird uns immer wieder bestätigt, dass man dort diese gewisse sauerländische Mentalität schätzt, die für Selbstverantwortlichkeit, pragmatisches Einschätzungsvermögen und Verlässlichkeit steht. Voll des Lobes ist man dort über unsere wirtschaftliche Stabilität, aber auch über die Leistungen unserer einheimischen Baufirmen, nicht nur jetzt in der langen Bauphase.“

Weitere Informationen zum Fraunhofer IME gibt es auf der Website www.ime.fraunhofer.de. Dort ist auch der ausführliche Jahresbericht 2019 mit einem historischen Rückblick und Informationen, Zahlen, Daten und Fakten über die zahlreichen Forschungsgebiete einsehbar.