Ein ganz besonderer Blick aufs Leben

Quelle: Andre Stahl

Die außergewöhnliche Geschichte des Dr. André Stahl

Ich komme kaum hinterher, als ich mit André einen Spaziergang durch Olpe mache, in einem irren Tempo, und er von seinem Alltag erzählt: Er geht gern joggen, spielt Schach, singt im Chor und hat gerade ein Buch geschrieben – über seine Arbeit als zuständiger Richter für Betreuungssachen beim Amtsgericht und im Besonderen über Menschen, die gesellschaftlich weder Stimme noch Lobby haben, was die Corona-Pandemie einmal mehr verdeutlicht hat. Bestes Abitur des Jahrgangs, Jura-Studium mit Prädikatsexamen, Promotion, zweites Staatsexamen ebenfalls mit Prädikat. Wem das noch nicht außergewöhnlich genug erscheint: Der 33-Jährige ist stark sehbeeinträchtigt.

WOLL: André, wie würdest du dich beschreiben? Was für ein Typ bist du?
André: Ich bin ein offener Mensch, der auf andere zugeht, ich würde sagen empathisch und humorvoll, aber auch sehr anspruchsvoll und kritisch, nahezu perfektionistisch, vor allem, was mich selbst und meine Leistungen betrifft, insbesondere während meiner Ausbildungszeit.

WOLL: Du hattest schon sehr früh die Idee, Richter zu werden. Wie kam es dazu?
André:
Da ich von Geburt an auf einem Auge blind bin und mit dem anderen nur sehr eingeschränkt sehen kann, hat das Schulamt damals beschlossen, dass ich nicht auf eine Regelschule gehen könnte. Deshalb habe ich zweieinhalb Jahre auf einer Förderschule verbracht. Die Schule hat ein sehr großes Einzugsgebiet, so dass die Schüler mit Taxis zur Schule und nach Hause gefahren werden. Auf diesen Fahrten haben wir uns oft über unsere Berufswünsche unterhalten und ich wollte – wie viele jüngere Kinder – Polizist oder Feuerwehrmann werden. Die anderen Kinder haben mich belächelt, weil sie meinten, dass ich das mit meiner Sehschwäche wohl nie werden könnte, was mich natürlich geärgert hat.

Meine Mutter hatte damals von einem blinden Richter gelesen und schlug mir vor, das als Berufswunsch anzugeben, damit die anderen Kinder Ruhe gäben. Und so war meine Antwort immer: „Ich werde Richter.“ Die kindliche Vorstellung, dass ein Richter über Gut und Böse entscheidet, gefiel mir, und die Fragen hatten ein Ende.

Jahre später habe ich aufgrund meiner Sehbeeinträchtigung eine Einladung vom Arbeitsamt bekommen, was mich sehr wütend gemacht hat, weil ich das Gefühl hatte, dass mir niemand etwas zutraute, so dass ich auch hier wieder sagte: „Dann werd‘ ich eben Richter.“ Tja, und das hab‘ ich dann durchgezogen.

WOLL: Inwiefern haben dich solche Erfahrungen geprägt?
André:
Als Kindergartenkind ist mir noch gar nicht bewusst gewesen, dass andere Kinder mehr sehen als ich. Für mich war dieser Zustand ja normal und mir fehlte nichts. Später auf dem Gymnasium musste ich schon viel mehr Zeit als andere für meine Schulaufgaben aufwenden, weil es einfach länger dauerte, bis ich etwa eine Lektüre gelesen hatte.

Klar waren solche Erfahrungen wie der Brief vom Schulamt, in dem jemand über meinen schulischen Lebensweg entscheidet, ohne mich oder meine Eltern jemals dazu befragt oder mich gesehen zu haben, schmerzhaft. So wie das Gefühl, von Teilen der Gesellschaft allein aufgrund der Beeinträchtigung behindert oder sogar ausgeschlossen zu werden.

Deshalb hatte ich sehr lange das Gefühl, jedem etwas beweisen zu müssen. Und ich wollte auf keinen Fall auffallen. Also habe ich mich bei allem extrem angestrengt, um mit anderen mitzuhalten. Mir fiel es lange Zeit auch sehr schwer, von anderen Menschen außer meiner Familie Hilfe anzunehmen.

Vor allem im Studium habe ich viel, teilweise zu viel von mir gefordert, ich habe mir selbst immer Druck gemacht. Im Vordergrund stand immer der unbedingte Wille, es zu schaffen und der Wunsch nach Anerkennung, getrieben von der Angst, nicht gut genug zu sein und schließlich zu scheitern. Im Rückblick war das streckenweise unnötig und übertrieben. Ich hätte es auch mit weniger Lerneifer geschafft und mehr auf meinen Körper hören müssen, einen Gang zurückschalten, mich mehr mit Freunden treffen, anstatt rund um die Uhr lernend am Schreibtisch zu sitzen. Aber nachher ist man ja immer schlauer.

WOLL: Hast du heute immer noch das Gefühl, anderen oder dir selbst etwas beweisen zu müssen?
André:
Nein, ich habe erreicht, was ich erreichen wollte. Das heißt natürlich nicht, dass ich keine Ziele mehr habe, aber ich bin angekommen. Ja, ich glaube, das beschreibt es am besten: Es war ein langer, steinharter Weg mit riesigen Hürden, aber ich habe ihn bewältigt und bin am Ziel. Ein großer und wichtiger Schritt war für mich, zu akzeptieren, in gewissen Situationen Hilfe zu benötigen und diese dann auch anzunehmen. So bin ich zum Beispiel froh, dass ich in meinem Beruf eine Assistenzkraft an meiner Seite habe.

WOLL: Beeinträchtigt dich deine Sehschwäche in deinem Beruf?
André:
Nein, ich kenne es ja nicht anders. Natürlich musste ich Techniken entwickeln, um meine Sehbeeinträchtigung zu kompensieren, aber vor allem mein trainiertes Gedächtnis und eine akribische Arbeitsweise kommen mir hier zugute. Außerdem habe ich technische Hilfsmittel, wie ein Bildschirmlesegerät oder eine Vorlesesoftware für den PC, die mir das Arbeiten erleichtern.

Da ich mit vielen Menschen zu tun habe, die auf verschiedene Art und Weise ebenfalls eingeschränkt sind, ist es mit meiner Einschränkung manchmal sogar leichter, einen Zugang zu ihnen zu bekommen.

WOLL: Nach all den kräftezehrenden Jahren (Abitur, Studium, Promotion, Referendariat) würde jeder wohl erst mal verschnaufen und sich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Du aber setzt dich wieder an den Schreibtisch und schreibst ein Buch. Welche Motivation steckt dahinter und wo nimmst du die Energie her?
André:
Bei meiner Tätigkeit als Richter für Betreuungssachen habe ich viele Menschen kennengelernt, die aufgrund ihrer gesundheitlichen, familiären oder psychosozialen Situation nicht in der Mitte der Gesellschaft leben. Menschen, die vor der Corona-Pandemie schon hintanstanden, und deren Lage sich während der Pandemie noch weiter verschärft hat. Es ist sogar so, dass sehr oft der Eindruck erweckt wird, diese Menschen sollten mangels „Systemrelevanz“ keine Ansprüche stellen.

Meine Motivation für dieses Buch liegt darin, diesen Menschen eine Stimme zu geben und ihre Geschichten zu erzählen – Geschichten, die sonst niemand erzählen würde. Es geht mir in dem Buch nicht darum, mich in den Mittelpunkt zu stellen oder zu zeigen, was mit einer Behinderung möglich ist. Aber meine eigene Geschichte fließt natürlich mit ein, weil ich denke, dass sie dabei helfen kann, den Blick der Gesellschaft auf behinderte Menschen zu reflektieren und zu hinterfragen. Aus meiner speziellen Situation heraus habe ich möglicherweise auch einen anderen Blick auf die einzelnen Schicksale.

Außerdem habe ich nach Jahren endlich das Gefühl, nicht mehr leise sein zu müssen (Stichwort stille Integration). Im Gegenteil: Jetzt darf ich laut sein! Also möchte ich meine und die Geschichten vieler anderer Menschen festhalten und weitergeben.

WOLL: Welche Botschaft steckt hinter deinem Buch?
André:
Zum einen eine berufliche Botschaft: Die Justiz sollte für den Bürger da sein, genau kommunizieren, was ihre gesellschaftliche Aufgabe ist, und in vielen Fällen auch mehr auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen. Zum anderen steckt hinter dem Buch auch meine persönliche Botschaft: Lass dich nicht aufhalten! Egal, ob du eine – wie auch immer geartete – Beeinträchtigung hast, mach dein Ding! Im Rahmen deiner vielleicht eingeschränkten Möglichkeiten gib immer dein Bestes! Ich kann die Reaktion einer anderen Person auf mich nicht beeinflussen, aber mein Denken darüber. Ich kann meine Behinderung akzeptieren, brauche ihr aber keinen zu großen Raum einräumen. Sie gehört zu mir, darf aber mein Leben nicht ständig und in allen Bereichen bestimmen oder gar einengen.

WOLL: Fällt dir ein besonders prekärer Fall im Rahmen deiner Arbeit ein, der dich emotional mitgenommen hat?
André:
Jeder Fall ist einzigartig und mir sind schon viele schlimme und traurige Schicksalsfälle begegnet. Zu meinen Aufgaben gehört auch, in bestimmten Fällen darüber zu entscheiden, ob bei einem Patienten die lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet werden dürfen oder nicht. Zum Glück musste ich das noch nie entscheiden, aber das stelle ich mir auch wirklich emotional herausfordernd vor. Leider wurden wir weder im Studium noch im Referendariat auf solche Begegnungen vorbereitet. Sehr berührend finde ich die Geschichten, die ältere Menschen von ihrer Zeit an der Front oder von ihrer Flucht erzählen. Der Umgang mit Menschen mit Behinderung ist mir hingegen vertraut, da das Thema Behinderung für mich nicht neu ist.

WOLL: In deinem Buch schreibst du: „Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert.“ Was meinst du damit?
André:
Ich weiß, dass eine Behinderung einen Menschen nicht unbedingt daran hindert, sein Leben zu leben, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu arbeiten und vor allem glücklich zu sein. Es ist die Gesellschaft, die an der Teilnahme hindert, indem sie Menschen oftmals mit Vorurteilen begegnet, ihnen weniger zutraut, sie nicht ernst genug nimmt oder sogar bewusst ausgrenzt.

Dagegen anzukämpfen kostet ungemein Kraft. Offiziell gibt es seit 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention, die unter anderem besagt, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben. Seitdem haben Kinder zum Beispiel bessere Möglichkeiten, an einer Regelschule unterrichtet zu werden. Außerdem gibt es sogenannte Nachteilsausgleiche wie Ermäßigungen in öffentlichen Einrichtungen. Das ist alles ein guter Anfang, aber im Bewusstsein in Teilen der Gesellschaft ist das Thema noch nicht angekommen.

Anfang 2023 treten im Recht der gesetzlichen Betreuungen Änderungen in Kraft, die Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen sollen. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt zu mehr Selbständigkeit und Inklusion.

WOLL: Hast du einen Wunsch an uns als Gesellschaft und einen Rat an Menschen mit einer Behinderung, etwas, das du aus deiner Lebenserfahrung ziehst?
André:
Bei all meinen Kämpfen, die ich auszutragen hatte, mit anderen, mit Behörden, aber auch mit mir selbst, habe ich vieles gelernt. Das Wichtigste ist wohl, dass glücklich sein wichtiger ist als Erfolg, und Glück nicht aufschiebbar ist. Wer sein Glück in die Zukunft verschiebt, der betrügt sich selbst.

Ich glaube, es geht nicht darum, an ein Ziel zu kommen, um glücklich zu sein, sondern darum, glücklich zu sein, während ich noch auf dem Weg zum Ziel bin. Dabei sollte man das eigene Handeln auch nicht nach den Vorstellungen anderer Menschen ausrichten, um andere zu beeindrucken oder von ihnen anerkannt zu werden.

Mein Wunsch an die Gesellschaft ist: Beurteile dein Gegenüber nicht nach seiner Behinderung, sondern nach seinem Handeln. Begegne anderen Menschen immer auf Augenhöhe und zolle ihnen Respekt statt Mitleid.

Und mein Rat an Menschen mit Behinderungen ist: Lasst nicht zu, dass jemand euch behindert und seid gerecht zu euch selbst! Lasst euch nicht von euren Zielen abbringen und macht euch nicht abhängig von der Meinung anderer Leute.

WOLL: Nach deinem Studium bist du wieder ins Sauerland gezogen. Welche Vor- und Nachteile bietet dir das Leben auf dem Land?
André:
Das Sauerland ist meine Heimat, hier habe ich Freunde und Familie, die Natur direkt vor der Haustür und einfach alles, was ich zum Leben brauche. In einer kleinen Stadt wie Olpe kann ich mich zudem sehr gut zurechtfinden. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist hier auf dem Land aber noch ausbaufähig und in einer größeren Stadt natürlich viel komfortabler.

Meine Studien- und Referendarzeit in der Großstadt habe ich sehr genossen und die Menschen als sehr offen und aufgeschlossen erlebt. Aber am Ende war es keine Frage, ob ich in meine Heimat zurückkomme, als ich die Möglichkeit dazu hatte.

WOLL: Herzlichen Dank für das offene, sehr fröhliche Gespräch und dein Vertrauen. Die eigene Geschichte öffentlich zu machen ist nicht selbstverständlich und erfordert viel Mut. Danke, dass wir einen Teil davon erzählen durften. Wir wünschen dir viel Erfolg bei all deinen Projekten, die du angehst, sowie bei der Suche nach einem Verlag für dein Buch. Alles Gute und herzlichen Dank!