50 Jahre Biggesee – Augenzeugen erinnern sich

WOLL Sauerland Bigge

Seit 50 Jahren liegt die Biggetalsperre vor der Haustür. Die größte Talsperre Westfalens und fünftgrößte Deutschlands hat sich längst zu einer beliebten Freizeit- und Ausflugsregion entwickelt.
Wer denkt noch daran, dass vor dem Bau des Stausees fast 2.800 Menschen ihre Häuser, Höfe, Betriebe und damit ihre Heimat verlassen mussten? Wer erinnert sich noch an die Herausforderungen für die Geologen, Ingenieure und die vielen Hundert Arbeiter auf einer der damals größten Baustelle Europas?
Ich habe zum Jubiläum „50 Jahre Biggetalsperre“ mit vielen Augenzeugen gesprochen und dabei nachdenkliche und lustige Geschichten erfahren. Wie die von Ambrosius Sawatzki und Wilhelm Remberg. Lehrer Sawatzki war im alten Listernohl stolzer Besitzer eines schmucken Wagens, aber auch für seine gemütliche Fahrweise berühmt-berüchtigt, die nie über den zweiten Gang (von damals noch üblichen vieren) hinausgegangen sein soll. Als Sawatzki den gehbehinderten Malermeister Remberg im Auto mitnehmen wollte, lehnte der lachend ab: „Ich gehe lieber zu Fuß, denn ich habe es eilig.“
Bei meinen Recherchen bin ich mit Menschen zusammengekommen, die mir bereitwillig aus ihrem Leben im längst in den Fluten versunkenen Biggetal erzählt oder über ihre Erfahrungen bei den Bauarbeiten berichtet haben. Fast jeder aus einem anderen Blickwinkel. Aber alles spannende Geschichten aus einer Zeit, die fast vergessen scheint.
Werner Berkemeier oder Rolf Jepsen kenne ich schon seit vielen Jahren. Beide hatte die Arbeit Anfang der 1960er-Jahre aus Plettenberg bzw. Norddeutschland an die Großbaustelle Biggetalsperre gelockt. Sie sind geblieben. Während Berkemeier mit viel Handarbeit an Sprengungen in Listernohl und Umgebung mitgewirkt hat, arbeitete Jepsen zunächst als Öler auf einem großen Bagger und später dann beim mühsamen Bau des Druckstollens für das Kraftwerk, der gut 560 Meter durch den Berg getrieben wurde. Beide haben mir geholfen, historische Fotos aus alten Familienalben richtig einzuordnen. Auch für sie war das eine spannende Zeitreise.

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Orlandus Pfeiffer (rechts vorne) und Hans-Werner Scharioth (links vorne) hatten zahlreiche Listernohler zu einer Gesprächsrunde in das Café Moses eingeladen.


Gerne haben mir Willi Rüsche aus Rhode oder Hans-Werner Scharioth aus Neu-Listernohl alte Aufnahmen und Feder-zeichnungen – wahre Schätze aus der guten alten Zeit – zur Verfügung gestellt. Zum Beispiel vom letzten Schützenfest 1963, als Hubert Rüsche im „alten Dorf“ regierte. Oder Fotos vom Karnevalsumzug in Listernohl. „Bei uns gab es ein reges Vereinsleben“, blickt Gärtnermeister Emil Heuel zurück und zählt von der Frauengemeinschaft bis zum SC Listernohl zahlreiche Vereine auf.
An der Bahnladestraße – auch kleine Kruppstraße genannt – oberhalb des Listernohler Bahnhofs waren etliche Gewerbe-betriebe angesiedelt. „Wir hatten sogar einen eigenen Wasser-beschaffungsverband und eine Elektrizitätsgenossenschaft“, betont Orlandus Pfeiffer. Der langjährige SPD-Stadtrat und in etlichen Vereinen aktive Pfeiffer ist eine Institution in Neu-Listernohl. Für eine Gesprächsrunde mit dem WOLL-Magazin hatte er viele „alte Listernohler“ in das Café Moses zusammengetrommelt.
„Jeder würde wohl für eine kurze Zeit in seine ehemalige Heimat zurückkehren, aber wohnen will dort bestimmt keiner mehr“, weiß Hans-Werner Scharioth, der Vorsitzende des neu gegründeten Dorfvereins.

Installateurmeister Eugen Plassmann hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. Darin heißt es über die Umsiedlung ins spätere „Golddorf“ Neu-Listernohl halb scherzhaft, halb sentimental: „Da zu dieser Zeit Taucherausrüstungen sehr teuer waren und auch nicht in heutiger Qualität zu bekommen waren, musste ich mich schweren Herzens entschließen, meinen noch sehr jungen Handwerksbetrieb oberhalb der Wasserfläche anzusiedeln … Wo blieb nun unser alter Heimatort, eingebettet in duftenden Wiesen und fruchtbringenden Äckern und Feldern, zwei romantisch eingebetteten Flussläufen (Bigge und Lister) und die mitten durch das alte Örtchen Listernohl laufende Eisenbahnlinie.“
Der im Listernohler Ortsteil Klinke geborene Willi Rüsche kann sich noch gut daran erinnern, dass seinem Vater das Verlassen der alten Heimat sehr schwer gefallen ist. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, hatte der Vater von elf Kindern immer wieder gesagt. Einige Zeit später wurden die Markierungen gesetzt, die die Höhe des Wasserspiegels der Biggetalsperre anzeigen sollten. Kurios und rekordverdächtig: Mit fünf Brüdern und dem Familienoberhaupt sang Willi Rüsche im MGV Listernohl, allesamt in der Bass-Stimme.
Beim Niedrigwasser 2003 wurden unterhalb des Schnütgenhofs die Grundmauern des Elternhauses freigelegt. Dort, wo der Werbegrafiker vor 70 Jahren als zweitjüngstes Kind aufgewachsen ist. Damals lebte die Mutter noch. „Da wurden viele Erinnerungen wach“, weiß Willi Rüsche noch genau. Wenn das Wasser ab dem Frühjahr wegen der Bauarbeiten am Biggedamm erneut um viele Meter fallen wird, will der Rentner aus Rhode wieder an dieser Stelle sein. Diesmal vielleicht mit seinen Enkelkindern.
Mit einer Schiffsprozession soll an Christi Himmelfahrt (14. Mai 2015) an das untergegangene Biggetal erinnert werden. Für viele wird es eine emotionale Zeitreise zurück in die alte Heimat.
Text: Martin Droste  //  Fotos: Martin Droste, Privat
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WOLL Sauerland Heft 9Diese und weitere interessante Geschichten lesen Sie in der FRÜHJAHRS-Ausgabe 2015 unseres Magazins
WOLL – RUND UM BIGGESEE UND LISTERSEE

 
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