Aus dem Tal der Ahnungslosen ins Arpetal

Familie Richter kam vor 30 Jahren vom Osten in den Westen

Text und Foto von Hermann-J. Hoffe

An die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls im November dieses Jahres wird sich mancher noch gut erinnern. In der Herbstausgabe des WOLL-Magazins hatten wir zwei Familien aus Eslohe und Schmallenberg vorgestellt, die ihre Erlebnisse rund um dieses historische Ereignis schilderten. Auch Familie Richter in Arpe verbindet mit diesem Jahrestag und der Zeit davor und danach auch ein ganz persönliches Schicksal. Das junge Paar Andreas und Ramona Richter machte sich am 21. November 1989 mit ihrer 9-jährigen Tochter Lysann mit einem Taxi auf den Weg von Dresden in der DDR (Deutsche Demokratische Republik) nach Köln in der Bundesrepublik Deutschland.

„Tal der Ahnungslosen“ nannten die Dresdner selbst ihre Stadt. Konnte man damals in anderen Teilen der DDR Westfernsehen empfangen, so war dies aufgrund der topografischen Lage des Elbetals rund um Dresden nicht möglich. Doch das war nicht der Grund, warum Andreas und Ramona Richter am 1.Oktober 1989 beim Staatssicherheitsdienst der DDR einen Ausreiseantrag stellten. Ramona Richter: „Als am 30. September die Züge von Prag über Dresden in den Westen rollten, haben wir den Entschluss gefasst, einen Ausreiseantrag zu stellen.“ Die legendären Worte von Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Prager Botschaft („Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“) sorgten danach auch am Dresdner Hauptbahnhof für unbeschreibliche Szenen. Mittendrin Andreas und Ramona Richter. Aus Autolautsprechern hörte man die Worte: „Bürger, gehen Sie auseinander, Sie bekommen alle Ihre Ausreise!“

Abschiedsessen mit der Familie am 9. November
Familie Richter bekam schnell nach dem Ausreiseantrag die Bestätigung, das dieser genehmigt würde. Am 9. November trafen sie sich mit der Familie zu einem Abschiedsessen und erfuhren durch eine Mitarbeiterin des Restaurants, dass die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik nun für alle Bürgerinnen und Bürger der DDR geöffnet sei. Andreas Richter feierte am 21. November seinen 1.Geburtstag, gleichzeitig traf die Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik für die drei Richters per Post ein. Der Hausstand war schon aufgelöst und die Fahrt zum Onkel nach Köln bestens vorbereitet. An der Grenze wurde freundlich zum Geburtstag gratuliert und am Abend konnte der 30. Geburtstag von Andreas schon im Westen, in Köln, gefeiert werden.

Sofort nach der Ankunft in Köln standen die notwendigen bürokratischen Anträge und Vorgehensweisen auf dem Plan. Arbeitslos melden, Wohnung suchen, Kind zur Schule anmelden und so weiter. Doch dann ging alles ganz schnell. Ein Bauunternehmen aus Schmallenberg-Arpe suchte Mitarbeiter, unter anderem für eine Baustelle in Köln. Genau das Richtige für Andreas Richter. Der Anruf bei dem Sauerländer Bauunternehmer wurde mit dem Wunsch verbunden, dass auch die Familie mitkommen könne. Überhaupt kein Problem. Andreas Richter hatte einen Job im Sauerland. Die Fahrkarten für den Zug von Köln nach Lennestadt wurden gekauft und dann ging es „ewig lange durch eine waldreiche Gegend nach Arpe“, schildert Ramona Richter die erste Autofahrtim Sauerland. „Wir wussten damals nicht, dass es das Sauerland überhaupt gibt.“

Liebe auf den ersten Blick
„In Arpe wurden wir vom ersten Tag an herzlich aufgenommen, und was soll ich sagen: Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Ramona Richter und blickt ihren Andreas lächelnd an. Andreas ergänzt: „Es war die beste Entscheidung in unserem Leben.“ Und Tochter Lysann, wie war für sie diese Zeit und woran erinnert sie sich noch? „Ich erinnere mich an den Weihnachtsmarkt in Köln, an den leuchtenden Weihnachtsbaum mit dem Puppenwagen als Geschenk bei Familie Henkel in Arpe, an die Tanzgruppe, an die Ausritte in Kückelheim, an eine wunderschöne Kinder- und Jugendzeit in dieser Gegend.“ Dazu zählte auch, wie Ramona Richter ergänzt, die Taufe von Lysann in der Osternacht 1991 in der Pfarrkirche in Berghausen. „Wir wurden warmherzig aufgenommen und mitfühlend behandelt. Alle waren sehr hilfsbereit und diese Erinnerung werden wir immer im Herzen tragen“, sagen Andras und Ramona Richter am 21. November 2019, beim 60. Geburtstag von Andreas, den die Familie im nahegelegenen Gasthof Voss einem herzhaften Abendessen feiert.

„Als wenn es am nächsten Tag keine mehr gegeben hätte.“
Und was gibt es noch für Eindrücke und Geschichten, die Richters mit ihrem Leben in der neuen Heimat Arpe verbinden? Ramona Richter: „Die vielen Feste und Feiern wie Schützenfest und Karneval, aber auch die Traditionen wie Kommunion oder das Wirken der Junggesellen, die das neue Jahr ansingen oder am Fastnachtsdienstag in die Häuser kommen, gefallen uns. Ganz besonders beeindruckt sind wir von den Rufnamen der Dorfbewohner: Steucken, Mecki, Panne, Stacho, Taube, Eisbär und so weiter, bei denen man den richtigen Namen oft nicht kennt. Und so nennt man auch unseren Schwiegersohn abgekürzt Emma (für Emanuel).“

Vor Jahren haben Andreas und Ramona Richter in Arpe gebaut. Direkt nebenan konnte Tochter Lysann mit ihrem Mann „Emma“ Lourenco ein Haus kaufen. Dort leben sie heute mit der 9-jährigen Josephine und vielen Haustieren. Familie Richter aus dem Tal der Ahnungslosen ist im Arpetal zuhause. „Wir sind rundum zufrieden, wie unser Leben verlaufen ist“, sagt Ramona Richter, die seit 28 Jahren bei FALKE in Schmallenberg arbeitet. Andreas Richter ist seit einigen Jahren bei Firma Brunert in Reiste beschäftigt. Zum Schluss erklären beide mit einem freundlichen Lachen: „Wir bedanken uns herzlich bei allen, welche uns ein so schönes Leben ermöglicht haben, und, dass wir unzählig viele Bananen kaufen konnten, als wenn es am nächsten Tag keine mehr gegeben hätte.“