Interview mit dem Rüthener Haarmännchen

Ein Schlapphut mit drei Fasanenfedern, ein Umhang, ein Wanderstock, den der berühmte Rüthener Esel ziert, und ein listiges Gesicht: So präsentiert sich das Haarmännchen bei unserem Treffen.

Text: Monika Loerchner
Fotos: Theo Kulke

Sühne für ein sündiges Leben

Es wird mancherorts gemunkelt, es handele sich bei der vermeintlichen Sagengestalt in Wirklichkeit um einen Hoinkhausener namens Theodor Fromme. Der pensionierte Kfz-Meister soll 35 Jahre im Motorsport tätig gewesen sein, davon zuletzt zehn Jahre in der DTM. 2007 soll er dann im Rahmen des Maifestes zu Werbezwecken in die Gewandung der Sagengestalt geschlüpft sein. „Alles Unsinn“, dementiert das Haarmännchen. „Ich komme aus Drewer und war lange Zeit Wirt!“ Als solcher soll er brave Bauern und Bürger in einem geheimen Zimmer in seinem Gasthof zum Glücksspiel verleitet und betrogen haben. Als Strafe für seine Sünden wurde er von einem Pfarrer dazu verdammt, nach seinem Tod ruhelos über den Haarstrang zu wandeln. Dort sollte er den Menschen als stete Warnung dienen, sich von ihrem sündigen Lebenswandel abzukehren. „Ich durfte mich jedes Jahr nur um einen Hahnentritt dem Dorf nähern“, klagt das Haarmännchen, „Das war ja weiß Gott nicht viel, deshalb hat es so lange gedauert, bis ich in Rüthen ankam.“

Die Rückkehr des Haarmännchens

2007 war es dann soweit und es schlich sich in der Nacht zum 1. Mai in die Stadt. Angeblich hat ihm dabei Graf Bernhard, Edelherr zur Lippe höchstselbst, geholfen. Doch für diese Behauptung finden sich keine Beweise. Müssen sich die Rüthener seitdem fürchten? Immerhin gehen nicht nur Betrug und Verleitung zum Glücksspiel auf das Konto des Haarmännchens. „Einige Durchreisende haben danach ja nicht mehr das Licht der Welt erblickt“, gesteht der ehemalige Wirt zögerlich. Kein Wunder, dass noch bis vor drei Generationen die Menschen ungehorsamen Kindern drohten: „Pass auf, sonst holt dich das Haarmännchen!“

Heute haben die Rüthener aber keinen Grund mehr zur Furcht, betont der reuige Sünder: „Mittlerweile bin ich sittsam geworden!“

Statt Bier, Schnaps, Karten und Würfel bringt das Haarmännchen jetzt bei seinen Stadtführungen Kultur und Bildung unters Volk. „Das Buch ‚Die Geschichte Rüthens‘ wiegt 2,5 Kilo – und ich kann fast jede Seite auswendig!“, erzählt es stolz. Seine bei Jung und Alt beliebten Führungen stehen dabei unter dem Motto „Geschichten, Anekdoten und Dönekes“ und sollen vor allem eins: Spaß machen!

Viel unterwegs

Überhaupt verläuft das Leben des ehemaligen Spielhöllenbetreibers heute deutlich gesitteter, wenn auch nicht unbedingt ruhiger als früher. An 80 bis 100 Tagen im Jahr ist das Haarmännchen unterwegs, sei es bei Stadtführungen oder bei Veranstaltungen wie dem Hansetag, als Symbolfigur für die Stadt Rüthen. Für die „Gilde der Nachtwächter, Türmer und Figuren e.V.“ agiert er zudem als Regionalsprecher. Die Gilde wurde 2004 gegründet, weil die Zunft der Nachtwächter Frauen die Mitgliedschaft verweigerte. „Dabei ist historisch belegt, dass es immer auch weibliche Nachtwächter gegeben hat“, so das Haarmännchen ärgerlich, „Ich kann mich selbst noch daran erinnern!“
Das glaubt man gern, immerhin hat der Drewener schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel. „Wie alt ich bin, weiß ich gar nicht mehr so genau“, bekennt das Haarmännchen, „Aber es müssen so 400, 450 Jahre sein.“ Er erinnert sich nämlich noch genau, wie er einmal einem armen Weber, der seine Familie während der großen Pestepedemie verloren hatte, in Gestalt eines Esels geholfen hat, indem er den Holzkarren des Mannes rechtzeitig vor Toresschluss in die Stadt brachte. „Diese große Pestepedemie war im Jahr 1625.“

Ein ganz neues Leben

Jetzt, 2019, denkt das Haarmännchen noch lange nicht daran, in die Wälder zurückzukehren. „So lange es mir Spaß macht und die Leute mich haben wollen, bleibe ich hier!“ Kein Wunder, hat sich doch für den reuigen Sünder alles zum Guten gewandt, er führt heute ein ganz neues Leben: Geht er durch die Straßen Rüthens, wird er allseits freudig gegrüßt; als Nachtwächter uniformiert ziert er das Cover des Buches „Nachtwächter und Türmer: damals und heute“ von Ulrich Metzner. Auch der heutige Bekanntenkreis des Haarmännchens kann sehen lassen: Neben seinen Gildenbrüdern und -schwestern zählen Prominente wie die Briloner Waldfee, Graf Bernhard von Lippe, Baron Münchhausen, das Soester Jägerken, die Bördekönigin und der Rattenfänger von Hameln zu seinen Freunden.

War die angebliche Sagengestalt einst zu jahrhundertelangem Verharren auf dem Haarstrang verdammt, führen ihn seine Aufgaben heute sogar in andere Länder wie Norwegen, Österreich oder Russland. Doch immer wieder kehrt er zurück in seine Heimat. Vielleicht, weil doch noch irgendwo sein Schatz vergraben ist …?

Das Gedicht vom Haarmännchen

Dies sind die Gedichtstrophen, die Fotograf Theo Kulke in den 50ern Jahren in der Katholischen Volksschule Menzel noch auswendig lernen musste:

Willst nächtens du über die schlafende Haar
von Menzel bis zu dem Haarherman.
So denk nicht, du wärst aller Sorgen schon bar

Und könntest daheim dich bald wärmen

Das Haarmännchen kroch aus der Linde hervor,

bei Menzel am Haarstrang zu finden.

Zu büßen, was frevelnden Muts es beschwor,

zu büßen der Wuchergier Sünden.

Die weiteren Strophen haben wir als Wikipedia-Eintrag gefunden:


Die Wege verwischt es mit nebelndem Hauch.
Du irrst, wie vom Irrlicht geblendet.
Du siehst nicht den Weiser, siehst Baum nicht und Strauch,
der Himmel kein Sternlicht dir sendet.

Oft gibt dir der Spuk nur ein stilles Geleit
Oft springt er dir jäh auf den Rücken.
Bis dass dich ein ragendes Kreuzbild befreit,
von qualvollem Würgen und Drücken.

Und hechelt am Weg ein zottiger Hund,
mit Augen wie glühende Kohlen –
das Haarmännchen ist’s, das in nächtlicher Stund’
umherschleicht auf knisternden Sohlen.

Und hockt noch im Felde ein Raufutterbund,
nachdem längst die Ernte geborgen,
das Haarmännchen steckt in dem traurigen Schwund
und wartet hier still auf den Morgen.

Nur einmal im Jahr eines Haushahnes Sprung
darf näher zum Dorf es sich fügen.
Wo glimmend im Loch der Vermauerung
verborgene Schätze noch liegen.

Jahrhunderte schwanden; es krähte der Hahn,
das Haarmännchen wühlte im Schatze,
da rief man nach Pfarrer und Sakristan,
zu bannen es wieder vom Platze.

Nun geistert’s auf’s Neu durch die heimische Flur,
mit finst’ren Mächten im Bunde.
Zu sühnen den Geiz und den sündigen Schwur,
macht seufzend es wieder die Runde:

Von Menzel nach Drewer, von Effeln zur Haar –
Einen Hahnenschritt darf es nur weichen;
Den Schritt eines Hahnes nur einmal im Jahr –
und nie wird das Dorf es erreichen.

Interview mit dem Rüthener Haarmännchen Ein Schlapphut mit drei Fasanenfedern, ein Umhang, ein Wanderstock, den der berühmte Rüthener Esel ziert, und ein listiges Gesicht: So präsentiert sich das Haarmännchen bei unserem Treffen.