„Wir möchten Erwin Sylvanus dem Vergessen entreißen“

🖊️ 📷 Monika Loerchner

„Für uns Kinder war er faszinierend“, erinnert sich Dr. Ulrike Witt an ihre Begegnungen mit Erwin Sylvanus in Völlinghausen, „Ich erinnere mich genau, wie er im Dorf umherging: die langen Locken unter einem Käppchen und mit blankem Oberkörper.“ Der Schriftsteller war in dem Möhneseedorf zweifellos ein Exot. Er bekam häufig Besuch, „dann fuhren dicke, amerikanische Straßenkreuzer durch den Ort.“ Aber er fühlte sich wohl in der Rolle des Außenseiters: „Er war ein Künstler, homosexuell, intellektuell – und die Menschen akzeptierten ihn. Er war bei allen Dorffesten dabei und saß auch schon mal mit in der Kneipe.“ Jetzt möchte Ulrike Witt den Schriftsteller „dem Vergessen entreißen“. Anfang 2019 erschien das – gemeinsam mit ihrem Mann Dr. Paul Forssbohm – erarbeitete Werk.

Er half der Nazi-Zensur -und fiel ihr zum Opfer

Das Haus von Erwin Sylvanus

Sylvanus‘ Schriftstellertum beginnt 1936 mit einem Tagebuch über eine Fahrt der Hitlerjugend. Fortan schreibt er vor Bildern und Eifer nur so strotzende Texte, in denen er den Krieg glorifiziert. Er interpretiert Kunst im Sinne der Nazi-Ideologie, spricht vom „deutschen Herrenvolk“ und „Dienstbotenvölkern“. Sylvanus trat in die NSDAP ein. Er war als Kunstrezensent unterwegs und hatte wesentlichen Einfluss darauf, was unter den Nazis ausgestellt werden durfte“, so Witt. Dass eben diese Zensur einmal dazu führen würde, dass er um seine wirtschaftliche Existenz bangen musste, erscheint ironisch: Sein Briefwechsel mit dem Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum (1943-1945) zeigt eindrücklich, welche Instrumente den Nazis zur Unterdrückung unerwünschter Literatur zur Verfügung standen. Da auch das Papier im Krieg knapp war, durfte nur verlegt werden, was genehmigt worden war. Sylvanus‘ gebrochener Held aus „Meme“ passte nicht in das heroische Weltbild der Naziführerschaft. Obwohl Sylvanus mehrfach auf seine Dienste für das Vaterland und die Partei sowie seine Versehrtheit und seine prekäre finanzielle Situation verwies – er hatte keine Ausbildung und war zu schweren körperlichen Arbeiten nicht mehr fähig – wurde ihm die Veröffentlichung verwehrt.

Vom „Herrenvolk“ zum edlen Spender

Derselbe Mann schreibt 21 Jahre später ein Drama, das die Gräuel des Holocaust so eindringlich schildert, dass Menschen auf der ganzen Welt davon berührt werden: „Korzcak und die Kinder“. Seine Tantiemen für die Aufführungen in Deutschland spendet Sylvanus an eine jüdische Hilfsorganisation. Wie passt das zusammen? In ihrem Mann, Paul Forssbohm, der in Vergleichender Literaturwissenschaft promovierte, fand die Historikerin Ulrike Witt den idealen Mitstreiter für ihr Projekt. Gemeinsam arbeitet sich das Ehepaar nun durch den immensen Nachlass des Künstlers, der zum großen Teil von der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund gekauft wurde. „Wir haben geschätzt 30.000 Briefe“, so Witt, „Ungeordnet – da weiß man nie, was man kriegt!“

Buchcover Lesebuch Erwin Sylvanus

Für das Ehepaar ist klar: „Sylvanus war einer der Ersten, der sich öffentlich mit dem Thema Holocaust auseinandersetzte.“ Doch was hat diesen Umschwung bewirkt? „Das wissen wir noch nicht“, gesteht Witt. „Viele hielten ihn für einen Opportunisten. Wir nicht.“

Wer war der SS-Mann?

„Ganz wichtig war Alfred Döblin (Alfred Döblin war ein in der NS-Zeit ins Exil geflohener Schriftsteller und Psychiater jüdischer Abstammung. Bekanntestes Werk:“Berlin Alexanderplatz“/Anm. d. Red), der ihm eine Liste gab mit Autoren, die er unbedingt lesen müsse. Thomas Mann, Kafka … die kannte Sylvanus ja alle nicht. Das öffnete seinen Horizont.“ „(…) es ekelt mich jedes Mal, wenn ich eine Zeile von dem, was ich früher schrieb, zu Gesicht bekomme“, urteilt Sylvanus später über seine älteren Werke
Ein weiteres Geheimnis, welches die Forscher noch lüften möchten, ist die Identität des SS-Mannes aus „Korczak und die Kinder“: „Erst haben wir Sylvanus unterstellt, der SS-Mann gewesen zu sein. Doch er war es nicht, das lässt sich nachweisen.“

Ein Mann der Widersprüche

Völlinghausen – Soest – Göttingen: diese Stationen teilen sich Ulrike Witt und Erwin Sylvanus. Doch so wie es die Historikerin in Richtung Stadt zog, so zog es den Schriftsteller aufs Land: 1952 kaufte er ein abseitiges Grundstück in Völlinghausen, wollte seine Ruhe haben. Doch schon bald folgten weitere Neubauten. „Das Dorf holte ihn ein“, sagt Dr. Witt lächelnd. „Daraufhin hat er sein ganzes Grundstück zuwuchern lassen und Bäume gepflanzt. Das war sein

Die Autorin Dr. Ulrike Witt

e Art, Abstand zu halten.“ Einen Abstand, den er auch dann und wann einmal überwunden hat. „Einmal brachen Jugendliche in sein Haus ein, machten es sich im Wohnzimmer gemütlich und tranken sein Bier“, erzählt Dr. Forssbohm. „Und was machte Sylvanus? Er nahm ein Bier und setzte sich dazu!“

Buchkritik: Die Macht der Gegenrede

Das „Lesebuch Erwin Sylvanus“ beinhaltet Sylvanus‘ von nationalsozialistischen Gedanken durchtränkte Geschichten, anrührende und feinsinnige zwischenmenschliche Beobachtungen späterer Jahre, Appelle an die Menschlichkeit, amüsante wie nachdenklich machende Briefwechsel und nicht zuletzt Kommentare von Zeitzeugen; es ist die Chronologie eines menschlichen Wandels. Sie zeigt, welch großen Stellenwert Widerworte einnehmen. Wie wichtig es ist, menschenfeindlichen Gesinnungen Einhalt zu gebieten und immer wieder das Gespräch zu suchen. Das Buch soll mit seinen 159 Seiten Lust machen, sich eingehender mit dem Schriftsteller zu beschäftigen – dies ist Dr. Witt und Dr. Forssbohm aufs Trefflichste gelungen!