Manchmal feiern wir Ostern

Von Peter Bürger
[su_box title=“Über den Autor“]Der in Eslohe geborene Verfasser ist Theologe und hat vor kurzem ein Buch über „Osterzeugen“ seiner Heimatlandschaft veröffentlicht. [Vgl. https://woll-magazin.de/2018/03/08/sauerlaendische-lebenszeugen/ ] Es kann mit Angabe der ISBN-Nummer überall vor Ort im Buchhandel bestellt werden: P. Bürger: Sauerländische Lebenszeugen. – Friedensarbeiter, Antifaschisten und Märtyrer des kurkölnischen Sauerlandes. 2. Band. Norderstedt 2018. ISBN: 978-3-7460-9683-4 (Umfang 488 Seiten; Preis: 15,99 Euro) https://www.bod.de/buchshop/sauerlaendische-lebenszeugen-peter-buerger-9783746096834[/su_box]
Vor zweitausend Jahren wurde Jesus von Nazareth in Jerusalem von der römischen Besatzungsmacht (und ihren Kollaborateuren in der Oberschicht) als gefährlicher Aufrührer betrachtet und gekreuzigt. Seine Freundinnen und Freunde erhielten in Visionen die Gewissheit, dass er lebt. Diese Erfahrung muss sehr tiefgehend und kraftvoll gewesen sein, denn die christliche Botschaft „Der Tod hat nicht das letzte Wort – die Liebe ist stärker!“ verbreitete sich über die ganze Erde. (Heute werden etwa ein Drittel aller Menschen auf dem Globus als Christen gezählt.)

  1. Ein „Todeskult“?

Möglicherweise stoßen viele Christen und Nichtchristen der Gegenwart zur Passionszeit auf ein „ikonographisches Problem“. Während die Auferstehung bildlich eigentlich nicht darstellbar ist, wurde das Kreuz zum alles dominierenden Erkennungssymbol der Christen.
Besonders irritierend ist für viele Außenstehenden der sehr späte Bildtypus mit der Figur des leichenfarbenen Gemarterten. Die Problemanzeige könnte in Gedichtform so lauten: „Nach zweitausend Jahren / Hängt er noch immer / Am Kreuz / In unseren Kirchen. / Soll man also glauben, / Er sei nicht auferstanden / Vom Tod / In unseren Kirchen?“ (P. Bürger: Gedichte „Zerbrechlicher Glaube“, 1992)
Zu Ostern 2009 hat Erzbischof Robert Zollitsch, damals Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, gepredigt, Christus sei „nicht deswegen für die Sünden der Menschen gestorben, weil Gott ein Sündopfer, einen Sündenbock gebraucht hätte“. Prompt wurde er öffentlich vom Traditionalistenoberen Franz Schmidberger der Häresie bezichtigt (KNA-Informationsdienst, 29.04.2009). Viele Fundamentalisten wollen unbedingt das blutige Sühneopfer für einen „Gott“, der nach Art eines beleidigten Herrschers unerbittlich „Wiedergutmachung“ einfordert.
In Düsseldorf hat vor Jahren ein evangelischer Pfarrer erzählt, seine Gemeinde habe nach dem Abbau eines übermächtigen Kreuzes an der Altarwand regelrecht aufgeatmet. Christen begehen keine 365 Tage im Jahr den Karfreitag. Könnte es nicht ein paar mehr Kirchen geben, die ein Bild der Geburt in den Mittelpunkt stellen, in denen die Ostersonne hell aufleuchtet oder durch deren Architektur ein sinnbildlicher Raum für das Wehen des göttlichen Geistes entsteht?

Auferstehungs-Fresko des Italieners Giotto di Bondone, gemalt zwischen 1304 und 1306
(Quelle: commons.wikimedia.org)

  1. Osterfeste „mitten im Leben“?

Oft wird gesagt, „Ostern“ wäre nur einmal vor 2000 Jahren geschehen oder würde nur einmal im Jahr gefeiert. Dem Priester Alois Albrecht geht es in dem nachfolgenden Liedtext „Manchmal feiern wir mitten im Tag“ (1974) hingegen um festliche Unterbrechungen, die sich unerwartet zu jeder Stunde ereignen können:

  1. Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung,Stunden werden eingeschmolzen und ein Glück ist da.
  2. Manchmal feiern wir mitten im Wort ein Fest der Auferstehung,Sätze werden aufgebrochen und ein Lied ist da.
  3. Manchmal feiern wir mitten im Streit ein Fest der Auferstehung,Waffen werden umgeschmiedet und ein Friede ist da.
  4. Manchmal feiern wir mitten im Tun ein Fest der Auferstehung,Sperren werden übersprungen und ein Geist ist da.

Hier werden Erfahrungen im Bann von „Totsein“ aufgebrochen. Die Strophen des Liedes vermitteln vier Ostervariationen:

  1. Ein von Freud- oder Gefühllosigkeit geprägter Lebensalltag, der mit einem mechanischen Fortschreiten des Uhrzeigers einhergeht, wird durch eine Glückserfahrung durchbrochen; die „Zeit der Sanduhr“ – die Zeit des Todes – steht auf einmal still.
  2. Die „Sätze“ der zweiten Strophe stehen für eine tote, konstruierte, vorschreibende und förmlich festsetzende bzw. festnagelnde Sprache, die den Einzelnen und die Beziehungen zwischen Menschen blockiert. Das Grab der „Schreibblockade“ und die durch ideologisches Gerede, Paragraphen, Formeln, Floskeln (Totschlag-Sprichwörter) … bewirkte Sprachlosigkeit zwischen Menschen werden aufgebrochen. Ohne dass wir es selbst gemacht hätten, kommt etwas ganz Neues zum Vorschein: das unerwartete Lied.
  3. Jeglicher „Kriegszustand“ zwischen Menschen (in Partnerschaft, Familie, Schule, Arbeitsplatz, Verein …) weist auf eine leidvolle Todesverfallenheit hin. Die eigene Lebensdynamik kommt durch die Fixierung der Feindseligkeit zum Stillstand, während der/die Andere förmlich für „tot erklärt“ wird („Du bist für mich gestorben“). Die dritte Liedstrophe benennt einen Alltagskonflikt (Streit), der unverhofft aufgelöst wird. Abrüstung (z.B. das Umschmieden der verbalen Waffen) und Friedensgeschehen werden nicht als moralische Leistungen gedeutet, sondern als Auferstehung. (Zu denken ist etwa an die Mystik eines Franziskus von Assisi, der die Versöhnung zwischen verfeindeten Menschen als Erweis der Gegenwart Gottes besingen konnte.)
  4. Die „Sperren“ in der vierten Strophe können z.B. für hartnäckige Grenzen des eigenen Lebensweges, für eingefahrene Verhaltensweisen, für Mauern zwischen Menschen und Menschengruppen oder für sogenannte Sachzwänge stehen. Befreiung (Mut, die Sperren zu überspringen) und Freiheitserfahrung („Geist“) verweisen auf die Möglichkeit neuer Beziehungen, ebenso auf die Möglichkeit einer ganz neuen Lebensrichtung.

Thematisiert werden in diesem Osterlied Erfahrungen, die man nicht produzieren oder kaufen kann: geschenkte Unterbrechungen von Starre, Unlebendigkeit, Ausweglosigkeit. – Es geht um „Auferstehungserfahrungen“: Glück, Lebenslied, Versöhnung und das Wunder von Freiheit im Lebensvollzug! Doch wir sind in diesem Geschehen nicht nur passiv Beschenkte. Es zeigt sich ja auch die Möglichkeit eines neuen Handelns: Stunden einschmelzen (Zeitdiktat missachten); Sätze (Vorurteile, Ideologien …) aufbrechen; Waffen umschmieden; Sperren überspringen …

  1. Osterglaube und Verwesung

Am 13. November 1953 musste Angelo Roncalli, der Patriarch von Venedig und spätere Papst Johannes XXIII., seine geliebte Schwester Ancilla begraben. Bevor der Sarg geschlossen wurde, küsste er seine tote Schwester auf die Stirn. Beim Rückweg zum Bahnhof regnete es. Roncalli flüsterte vor sich hin: „Weh uns, falls alles eine Illusion ist.“ Der kalte Tod ist ein Abgrund. Ich verstehe sehr gut, warum es in manchen Kulturen ein Tabu für die Lebenden ist, ihn zu berühren. Dass die Toten inzwischen als profitable Ausstellungsobjekte in einem besonderen Museum fungieren, ist eine andere Weise, sie sich vom Leibe zu halten.
Wenn wir an meinem letzten Arbeitsplatz im Krankenhaus die soeben Verstorbenen gewaschen haben, gehörte dies immer noch zur Pflege. Der Körper war noch warm. Das Gesicht zeigte den Menschen, den wir kannten. Wir sprachen mit dem Verstorbenen, wie wir es davor beim Waschen ja auch getan hatten. Doch nur einen Tag später, wenn etwa ein Schmuckstück im Leichenraum noch abgenommen werden musste, war der Tote ein radikal Fremder.
Am meisten habe ich den kalten Tod gehasst, als er meinen Vater in den Sarg gelegt hat. Ich finde es tröstlich, dass ein Heiliger wie Angelo Roncalli am Beerdigungstag seiner Schwester keine frommen Sprüche geklopft hat. Hand aufs Herz: Tröstet es Sie wirklich, dass vor zweitausend Jahren der Leichnam Jesu auf einmal nicht mehr im Grab gelegen haben soll? Danach geht es mit dem kalten Tod, soweit es die Grablegungsstätten betrifft, ja weiter wie eh und je.
In einer alten rabbinischen Exegese zum 1. Buch Mose (Genesis) 22,4 liest man: „Es steht geschrieben Hosea 6,2: ›Er wird uns lebendig machen in zwei Tagen; am 3. Tag wird er uns auferwecken, dass wir vor ihm leben‹.“ Oder an anderer Stelle in der rabbinischen Literatur: „Der Heilige, gelobt sei Er, lässt einen Gerechten nicht länger als drei Tage im Unglück.“ Am dritten Tag – so künden die Evangelien im Einklang mit jüdischen Glaubensvorstellungen – hat Gott Jesus wieder zum Leben erweckt. Jesus ließ sich sehen, und er wurde gesehen. Das war nach der Kreuzigung die unerhörte Geburtsstunde der Gemeinde Jesu.
Es gebe, so habe ich schon mehr als einmal in Osterpredigten gehört, für das Sehen der Jünger in unserer Zeit keinerlei Entsprechung. Paulus sei der letzte Auferstehungszeuge gewesen, und wir müssten Ostern einfach im Glauben annehmen, auch wenn wir es selbst gar nicht sehen.
Es ist aber einfach nicht wahr, dass es keine uns zugänglichen Entsprechungen gibt. So wie manchen Sterbenden in Träumen das Gehen wirklich leicht gemacht wird, so gibt es auch für viele Zurückbleibende Trost im nächtlichen Traumgeschehen. Eine meiner Kolleginnen grämte sich nach dem Tod ihres Vaters und wusste keinen Ausweg aus ihrer Trauer. Eines Nachts sah sie ihren Vater während des Schlafes. Er sprach sogar und versicherte ihr im Traum, dass es ihm gut gehe und alles gut sei. Seitdem war sie erlöst.
Viele Menschen erhalten im Traum auch Ratschläge von ihren lieben Verstorbenen und fahren gut damit, dann zuzuhören. Ich meine, ein Osterprediger müsste doch zumindest von solchen menschlichen Erfahrungen etwas wissen.

Auferstandener Jesus mit lachendem Gesicht: Miniatur zu einer Handschrift von 1503, – Nationalbibliothek von Wales
(Quelle: commons.wikimedia.org)

  1. Das Sinnbild des leeren Grabes zeigt ein neues Leben an

Tatsächlich sind die Bilder des Ostermorgens im seelischen Bereich etwas, das alle Menschen verstehen können. Nach einer langen Depression, in der all ihre Gefühle und jegliche Lebendigkeit wie abgestorben waren, träumte eine Frau: „Ich kam aus einer dunklen Höhle heraus auf eine blühende Wiese.“ Nach solchen Erfahrungen und Traumbildern ist es einleuchtend, dass die Evangelien-Texte des Osterfestes mit unserem Leben zu tun haben.
Während meines Theologiestudiums gab es keinen Professor, der die Ostererscheinungen als etwas auslegte, das mit der übrigen Menschenwelt rein gar nichts zu tun hat. Das leere Grab, so konnte ich 1985 beim Tübinger Neutestamentler Gerhard Lohfink hören, ist nicht zwingend für den Osterglauben. Es könnte ebenso fehlen. Es kann die Osterbotschaft erst recht nicht stützen, so als ob es um einen reanimierten Leichnam ginge. In dieser Vorlesung Gerhard Lohfinks, der später heftig gegen Eugen Drewermann polemisierte, habe ich gut zugehört, weil auf einmal ungewohnt viel Psychologie mit ins Spiel kam. Die betreffende, allerdings nicht autorisierte Mitschrift von Studenten des Wilhelmstiftes gab dies so wieder:
„In jeder Offenbarung ist ein psychogenes Element enthalten, das nicht eliminiert werden kann und darf … Früher empfangene Daten und Sinnbilder, Strukturen des Unbewussten und Imaginationskraft, innerseelische Energien und die persönliche Geschichte eines Menschen oder die Geschichte einer Gruppe gehen ein in die Vision. Also Innerweltliches ist die Ursache der Vision. Die Erfahrungsgeschichte der Jünger mit Jesus wurde gespeichert im Unbewussten und ist mitverantwortlich für die österliche Vision. … Der Mensch produziert von seinem Unbewussten her die Visionen. Das kann man so sagen, sonst nähme man die Grundkonstitution des Menschen nicht ernst. … Dort, wo der Mensch sich Gott ganz öffnet und hingibt, dort ist Gott schon immer am Werk… Ein echtes Visionsphänomen ist ganz die Tat des Menschen. Nämlich das Unbewusste ins Spiel bringen, seine Geschichte, seine Erfahrungen, seine Imaginationskraft und sein Unterbewusstes. Eine echte Vision ist aber zugleich ganz die Tat Gottes, der sich über die Sinnbilder und die innerseelische Dynamik eines Menschen zeigt und offenbar macht …“
Wenn wir nun heute in unserer Mitte keine Erfahrungen von Auferstehung zum Leben mehr kennen – und wenn wir nicht den Aufstand wagen gegen den gemachten Tod von so vielen Millionen Menschen auf der Erde (aufgrund von Unterversorgung, Gier, Krieg und Umweltzerstörung), warum wäre Jesus dann gestorben und für wen?
Beides aber gehört ganz eng zusammen. Gegen todbringende Verhältnisse können nur Menschen aufstehen, die aufgrund eigener Ostererfahrungen das Leben lieben.

  1. Ein „Anderes Osterlied“:
    Aufstehen gegen die Diktatur des Todes

Der reformierte Schweizer Pfarrer Kurt Marti hat ein „Anderes Osterlied“ (1970) gedichtet. Er bringt zur Sprache, wie die Botschaft von einem ‚ewigen Leben‘ nach dem leiblichen Tod missbräuchlich als Festschreibung bestehender Verhältnisse gedeutet werden kann (Herrschaft von Menschen über Menschen; Ungerechtigkeit; Gewalt):
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tod Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer!
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.
Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren!
Ostern ist für Kurt Marti die Befreiung zum Leben und zum Aufstand gegen die Drahtzieher des Todes, besonders auch zum Aufstand gegen die Nutznießer des Kriegsapparates: hier und JETZT.

Steinsarkophag, um ca. 350 n. Chr.: Das Christus-Symbol über den römischen Soldaten symbolisiert die Auferstehung
(Quelle: commons.wikimedia.org)