Gartenzwerg ausgesetzt und verschwunden

Von Dita Helgrid Nerbas (2018)
Ratten und Zwerge – Gartenzwerge – haben nichts gemeinsam. Außer, dass mein Vater sie nicht mochte. Es gab sonst nichts, was mein Vater so sehr nicht mochte. Eigentlich war er ein sehr verträglicher und liebevoller Mensch. Offen für alles und jeden. Mitleidig mit jeder Art von Kreatur. Es gab sonst nichts, was er so abgrundtief und überhaupt nicht gemocht hat. Bei den Ratten kann man es vielleicht verstehen, wenn man bedenkt, dass es ungute Kriegs- und Nachkriegserlebnisse geben kann, mangelnde Hygiene, das vermehrte Aufkommen von Ratten, die nicht alle immer nachts schlafen…
Spießigkeit
Bei Ratten kann man wirklich, ohne Näheres zu wissen oder erzählt bekommen zu haben verstehen, dass ein Mensch sie nicht mögen muss. Vergleichbar mit Spinnen. Spinno-Phobie. Ratto-Phobie. Angst, von Ratten angeknabbert zu werden. Nicht weg zu können. Ausgeliefert zu sein und sich nicht wehren zu können. Der Gewalt zu erliegen. Gedemütigt zu sein. Demütig. Ratten flüchten. Ratten fliehen. Aber Zwerge??? Auf die Frage, was er an den Gartenzwergen nicht mochte, antwortete er nur, sie seien spießig. Ein Zeichen von Spießígkeit. Die Spießigkeit selbst. Was ist daran schlimm? Viele Leute haben Gartenzwerge in ihren Beeten, auf dem Rasen, auf der Vortreppe, dem Balkon, der Terrasse stehen, na und? Es gibt niedliche und hässliche, große und kleine, normale und unkonventionelle, sittsame und freche, witzige und solche, für die man einen speziellen Humor braucht. Die über Grenzen des guten Geschmacks hinweg gehen. Über Grenzen des Geschmacks? Für meinen Vater kam überhaupt kein Gartenzwerg in Frage. Da gab es keine Grenzen. Einfach gar keiner. Null. Nirgends. Wenn du mir einen Gartenzwerg… dann enterbe ich dich! Was hatte es bloß damit auf sich?!? Ich wollte es herausfinden. Und nahm mir einen zu Hilfe. Einen niedlichen etwa dreißig Centimeter großen Gesellen aus Ton, mit roter Zipfelmütze, nett anzuschauen. Lächelnder Blick leicht gewendet über die Schulter. Ein volles Säckl auf dem Rücken. Grüne Jacke, rote Hose, braune Stiefel an. Er kam offensichtlich gerade von seiner Zwergen-Arbeit aus dem Briloner Wald.
Briloner Wald
Es gibt viel Wald im Sauerland, und dementsprechend viel zu tun für Zwerge. Hinterm Haus im Blumenbeet machte er gar keine so schlechte Figur. Es ging nicht. Es war meinem Vater ernst damit. Der Zwerg musste weg. Er verschwand im Kleiderschrank meiner Mutter. Vermutlich war es nicht in Ordnung, dass er überhaupt noch im Haus war. Wenn mein Vater zutiefst gekränkt war über meinen Versuch, ließ er es sich jedenfalls nicht hundertprozentig anmerken. Aber vermutlich ging es wirklich an seine Grenzen, sich in diesem Fall durchsetzen zu müssen. Und nicht verstanden zu werden. Wusste er denn selber, warum er so eine abgrundtiefe Abneigung…? Wir überlegten, wem wir ihn schenken könnten. Die Nachbarn schienen nichts gegen Gartenzwerge zu haben. Hatten teils selbst Figuren im Garten, ein kauerndes Reh, einen Fliegenpilz… Der Zwerg wäre zu nah am Garten meines Vaters gewesen, wir konnten ihn nicht einfach den Nachbarn schenken. Verstehen geht anders. Bis heute gibt es keine Erklärung für diese Ablehnung eines typisch deutschen Kulturgutes. Es wird auch keine Erklärung mehr geben können, denn mein Vater ist inzwischen verstorben. Nicht aus Gram über den Zwerg, der im Haus versteckt mit unter seinem Dach lebte. Hauptsache, die Nachbarn würden ihn nicht sehen. Versteckt war er wohl nicht ganz so schlimm gewesen. Nein, der Zwerg hatte ihm nicht den Rest gegeben. Der hatte keinen Mucks mehr gemacht. War vorübergehend sogar vergessen worden. Mit meiner Mutter räumte ich dann ihre Schränke auf. Der Zwerg sollte jetzt wieder freigelassen werden, doch die Frage blieb: Wohin? Haus, Garten und die nähere Umgebung blieben tabu.
Wohin mit dem Zwerg
Niemand wollte den Zwerg. Niemand konnte ihn gebrauchen. Also entschieden wir uns, ihn auszusetzen. Das Wetter war nicht mehr ganz so kalt, der Winter nicht einer der strengsten. Etwas untypisch für einen Sauerländer Winter, aber uns war es recht. Für den Zwerg. Und für unser Gewissen ihm gegenüber. Auf einer Bank bei den Schafwiesen, in einem Spaziergänger- und Hundeausführer-Gebiet, wo die bewohnte Welt Brilons fast zuende ist, leuchtete die rote Bekleidung des Zwerges einladend und freundlich. Sein Gesicht tat ein übriges. Er blieb nicht lange dort stehen. Als ich ein paar Tage später nachsah, war er fort. Spurlos.