Heiligabend unter der Unterführung

Sabine Stracke hat das Vorlesebuch für Schulkinder und alle, die Spaß an einfühlsamen Geschichten haben, geschrieben.

Christina ist vierzehn Jahre alt und lebt als Einzelkind mit ihren Eltern in einem schönen Haus in Wennemen. Sie ist unglücklich, weil keiner sie versteht. Ihre Eltern sind aber auch einfach gegen alles. Ihre Kleidung gefällt ihnen nicht, denn sie finden die Röcke zu kurz und die Hosen zu eng. Das leuchtend rote Haar finden sie zu auffällig und ihre Musik zu aggressiv. Es vergeht kein Tag an dem Christina nicht mit ihren Eltern streitet. Schon morgens vor der Schule geht es los und endet, wenn sie ins Bett geht. Sie ist traurig, weil die ständigen Streitereien ihr ziemlich an die Nerven gehen.
Bald ist Weihnachten und Christina hat, wie jedes Jahr, ihren Eltern die Weihnachtswünsche mitgeteilt. Aber diesmal haben sie ganz anders reagiert als die letzten Jahre. Christina war entsetzt, denn Mutter hat sie gleich erpresst und gesagt: “Weihnachten findet nur statt, wenn du deine Haare in Ordnung bringst und dir für die Festtage etwas vernünftiges zum Anziehen kaufst.“
Abends liegt Christina in ihrem Bett und weint leise vor sich hin. Was war denn nur aus ihrer Familie geworden? Warum verstand sie keiner mehr? Hatten ihre Eltern sie nicht mehr lieb?
Das war es.
Nun hatte Christina die Antwort gefunden. Die Eltern lieben sie nicht mehr und wollen Weihnachten nicht mehr mit ihr zusammen feiern. So war es. Christina ist sich sicher, dass dieses der Wahrheit entspricht. Sie weint bitterlich und fasst einen Entschluss. Christina liebt ihre Eltern sehr und wünscht ihnen ein schönes Weihnachtsfest, ohne Sorgen und dem Anblick ihrer missratenden Tochter. Also muss sie gehen, damit sie einem gesegneten Fest nicht im Wege steht.
In den nächsten Tagen ist Christina immer wieder damit beschäftigt, ihre Flucht von zu Hause vorzubereiten. Sie legt Lebensmittel an die Seite und packt diese mit Bekleidung zusammen in einen Rucksack.
Heute ist Heiligabend und heute will sie ihre Eltern verlassen. Nach dem Mittagessen zieht sie sich besonders warm an, nimmt heimlich ihren gepackten Rucksack und verlässt leise das Haus. Ihr Handy macht sie aus und packt es in den Rucksack. Nur für den Notfall.
Sie läuft ziellos durch Wennemen und überlegt, wohin sie gehen soll. Christina beschließt über den Fahrradweg zu gehen, der auch am Bahnhof in Freienohl entlang führt. Am Bahnhof zieht sie sich am Automaten eine Fahrkarte nach Dortmund.
Im Zug wird ihr etwas flau im Magen und sie zweifelt an der Richtigkeit ihres Vorhabens. Doch dann denkt sie an die ständigen Meinungsverschiedenheiten mit ihren Eltern und ist sich schnell wieder sicher, dass sie nicht geliebt wird und weg muss.
In Dortmund angekommen, läuft sie durch die Stadt. Die Geschäfte sind schon geschlossen und so ist nicht mehr viel los in der Einkaufsstrasse. Bis auf wenige Menschen, die noch herum laufen, bereitet sich ganz Dortmund auf den Heiligenabend vor.
Christina setzt sich auf eine Bank. Erst als es dunkel wird, steht sie wieder auf und läuft weiter. Langsam wird es ihr, auch trotz dicken Sachen, ganz kalt.
Sie geht auf eine Unterführung zu und entdeckt mehrere Obdachlose um eine Feuertonne sitzen. Gerade, als sie sich abwenden will, spricht sie einer der Männer an und bittet sie herüber zu kommen. Obwohl sie sich etwas fürchtet hat, geht sie doch zu ihnen. Der Gedanke, sich an das wärmende Feuer zu setzen, lässt sie diese Angst überwinden.
Nachdem sie eine Weile wortlos vor dem Feuer gesessen hat und die Wärme sich in ihren Körper breit macht, greift sie in ihren Rucksack und holt die Dose mit den Plätzchen heraus. Sie nimmt sich einen und reicht die Dose dann weiter. Freudig greifen die Obdachlosen zu und sind begeistert von den frischen Weihnachtsplätzchen.
„So etwas Leckeres habe ich schon ewig nicht mehr gegessen“, sagt der Mann links von Christina, der sich als Henning vorgestellt hat. „Hat die deine Mutter selbst gebacken“, fragt ein anderer und nimmt sich noch eines.
Christina erzählt von den vielen Backnachmittagen in der Weihnachtszeit und das es immer nach anderen leckeren Plätzchen duftet. Schnell redet sie ununterbrochen von ihrer Familie und den unterschiedlichen Bräuchen, die sich jedes Jahr, zu dieser Zeit, wiederholen.
„Das hört sich aber richtig gut an“, sagt Henning und strahlt Christina an.
„Ja, das ist es auch“, sagt Christina. „Alle sind aufgeregt und jeden Abend sitzen wir zusammen und knacken Nüsse und essen die selbstgebackenen Plätzchen. Die Weihnachtszeit ist immer etwas ganz besonderes, aber das Weihnachtsfest ist noch viel schöner.“ Sie strahlt über das ganze Gesicht.
„Aber warum sitzt du denn dann hier und nicht zu Hause bei deinen Eltern“, fragt einer der Männer leise. Alle schauen Christina an. Ihr wird ganz heiß und auf einmal laufen dicke Tränen über ihre Wangen.
„Meine Eltern lieben mich nicht mehr und wollen mich dieses Jahr auch nicht mehr dabei haben“, sagt sie trotzig und schaut lange ins Feuer.
Keiner sagt etwas.
Nach einer Weile erzählt Christina was sich in den letzten Monaten zu Hause zugetragen hat.
Die Männer hören der Geschichte schweigend zu.
„Aber“, sagt Henning zögernd und schaut Christina an. “Wenn ich dazu etwas sagen darf. Ich sehe das aber anders, denn ich finde, dass deine Eltern dich sehr lieben.
Sie haben große Angst um dich. Sorge, dass du vom richtigen Weg abkommst.“ Henning sah Christina in die Augen. „Ich habe auch einen Sohn gehabt“, spricht er weiter. „Wir sind im Streit auseinander gegangen. Auch er fühlte sich unverstanden und konnte meine Ängste nicht verstehen. Eines Tages war er weg und ich habe ihn nie wieder gesehen.“
Er schaut traurig zu Boden, bevor er nach einer Pause weiter erzählt. „Für Eltern ist es sehr schwer, wenn sie sehen, dass ihr Kind selbständig wird und es sich äußerlich auch noch verändert. Glaube mir, deine Eltern wollen nur das Beste für dich. Sie kommen heute bestimmt um vor Angst, weil du nicht zu Hause bist. Sie werden bestimmt nicht Weihnachten feiern, sondern versuchen dich zu finden.“
Vorsichtig nimmt er die zittrige Hand von Christina und lächelt sie an.
„Glaube mir“, sagt er leise und seine Augen füllen sich mit Tränen, „ich würde alles dafür tun, wenn ich meinen Sohn wieder sehen könnte. Nichts auf der Welt ist so schlimm, dass man sich deswegen trennen muss.“
Zögernd fast Christina in den Rucksack, holt ihr Handy heraus und schaltet es wieder ein.
Es dauert nicht lange und es piept und piept. 25 zig Anrufe von ihren Eltern.
Christina fängt an zu weinen. „Was habe ich nur getan“, fragt sie. „Sie werden mir schrecklich böse sein“, bringt sie stockend hervor.
„Ruf einfach an“, sagt Henning aufmunternd, „sie werden überglücklich sein, dass es dir gut geht.“ Auch die anderen ermutigen Christina zum Anruf.
Christina wählt mit zittrigen Fingern die Telefonnummer ihrer Eltern. Weinend nimmt ihre Mutter ab. „Liebes“, sagt sie, „wo bist du denn. Bitte komm nach Hause.“
„Mama“, weint Christina, „ich bin in Dortmund, in einem Park und sitze mit Henning und seinen Freunden unter einer Unterführung. Mir geht es gut.“
„Bleib, wo du bist. Papa und ich fahren sofort los und holen dich ab“, sagt Mutter und kann ihre Freude kaum zurück halten.
„Mama warte mal“, ruft Christina, „könnt ihr von dem Essen etwas mitbringen. Dann haben meine Freunde auch ein leckeres Weihnachtsessen. Sie haben so gut auf mich aufgepasst.“
„Wir schauen mal, was wir machen können“, sagt Mutter und legt auf.
Nach nur zwei Stunden fällt Christina ihren Eltern weinend und glücklich in die Arme.
„Liebling, was hattest du nur vor“, fragt Vater. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Lass uns später darüber reden“, lacht er, „Nun wollen wir alle gemütlich Essen.“
Er geht zum Kofferraum und kommt mit einer riesigen Box zurück. Anschließend bringt er noch einen kleinen Campingtisch hervor und Mutter baut in Windeseile ein kleines festliches Buffet auf. Sie haben sogar an Wolldecken und warmen Jacken gedacht.
So feiert Christina mit ihren Eltern und den Obdachlosen, mitten in einem Park in Dortmund, ganz gemütlich den Heiligabend unter einer Unterführung. Es herrscht eine festliche Stimmung und alle sind glücklich.
Das ist ein Erlebnis, welches keiner, der hier Anwesenden, jemals wieder vergessen wird.
 

Weihnachtsgeschichten aus dem Sauerland – Ein Vorlesebuch für Schulkinder und alle die Spaß an einfühlsamen Geschichten haben.

Vor allem für kleine Leute erzählt Sabine Stracke 24 stimmungsvolle Weihnachtsgeschichten aus dem Sauerland … Während Mama und Papa in den letzten Vorbereitungen stecken, können die Kinder Heiligabend kaum erwarten. Dass bei all der Aufregung nicht immer alles rundläuft, ist klar: Wer ist bloß der Dieb, der heimlich Mamas Weihnachtsessen futtert? Und was, um Himmels willen, macht der Weihnachtsmann in der Klärgrube!? Entstanden ist daraus ein Vorlesebuch für Schulkinder und alle, die Spaß an einfühlsamen Geschichten haben. Geschichten von kleinen Pannen und großen Überraschungen, in denen Tannenzweige sprechen können und die Weihnachtsgans nicht im Ofen, sondern in der Manege landet. Von Familien, die zusammenhalten, und Menschen, die Fremden und Außenseitern mit offenem Herzen begegnen.
Sabine Stracke: Weihnachtsgeschichten aus dem Sauerland. Ein Vorlesebuch für alle, die Spaß an einfühlsamen Geschichten haben. WOLL-Verlag, unterstützt von der WP. 144 Seiten, ISBN: 9783943681-58-1.