Der letzte Zapfenstreich

Das war es dann wohl! Durchnässt und körperlich arg gebeutelt sitze ich auf der Treppe vor unserer Haustür. Nur das aufgebaute Partyzelt und vereinzelt herumliegende Kippen und Kronkorken erinnern noch an den legendären Königsabend, der hier vor drei Tagen als symbolischer Startschuss für das jährliche Schützenfest unseres Dörfchens knallte. Unterm Carport, wo die Blasmusik den Böhmischen Traum endlos schleifte und später bis zum Morgengrauen eskaliert wurde, stehen ab morgen wieder Autos. Und von der hölzernen Königskrone im Vorgarten tropft leise der schnapsgetränkte Mitternachtsregen. Meine Kette trägt jetzt die nächste Majestät – und ich bin wieder nur noch ein Mensch. Ein Jahr Schützenkönig im Sauerland. Präsentiermarsch, woll!
Ein Jahr zuvor! Nein, ein richtiger Traum war es eigentlich nie: Schützenkönig. Auch wenn der Presseheini (Dorfbezeichnung für Lokalredakteur) es in seinem Bericht von der Vogelstange so voller Provinzpathos mutmaßte. Nun war er aber unten, der Holzvogel. Ich hatte ihn kaputt gemacht (erlegt…den Aar) und war damit am Ziel vieler Sauerländer Herzenswünsche: Dorfregentschaft! Meine Frau hatte bereits im Vorfeld dankend abgewunken, so dass die Königinnenwürde für diesen Fall der Brauchtumsfälle meiner lieben Nachbarin zu Teil wurde. Diese wollte mich zum einen dankbarerweise nicht hängen lassen, zum anderen verwette ihr Mann fahrlässig 100 Liter Bier auf ihr (für ihn) sicheres Nein zur Krone. Läuft. Danke Steffi! Der letzte Schuss…peng… Nachdem ich mich unter dem Schweineberg meiner Freunde herauswinden konnte und nun meinem jubelnden Volk erstmalig entgegen trat, war es Gewissheit: Ich hatte als ehemaliger Zivildienstleistender und Schießbudenpazifist tatsächlich etwas mit einer Waffe getroffen. Der Musikverein spielt Waidmannsheil, ich stecke mir das Hemd in die Hose. Man will ja gerade jetzt nicht aussehen wie nen Schlunz. Meine Stimme liegt seit gestern allerdings leider noch oben im Zelt. Egal. Ich freu mich. Mama auch, glaub ich! Es beginnt eine Zeit voller Termine und Überraschungen. Wie lange man über die farbliche Gestaltung von Hofstaatsroben philosophieren kann war mir eben so neu wie die Tatsache, dass du als König doch nicht wirklich der wichtigste Typ im Dorf bist. Du bist halt nur der Neue.
„Heute ein König,
morgen ein Arsch!“
Unser Hofstaat trägt uns allerdings durch dieses Jahr. Ein vorher nachbarschaftliches Verhältnis reift zu einer Art wilder Party-Ehe. Flüssige Hopfen– und Streuobstwiesenex-trakte wässern hier die anfänglich noch zarten Gemeinschaftssamen („Trinkse zwischendurch abba auch ma nen Wassa, woll!?“).
Ab Mai ist dann royales Vollgas angesagt. Festzug hier, Gratulation dort. Und alles immer mit reichlich Atü aufm Kessel. Dann wird marschiert (zwischendurch sogar mal richtig), Kommandos werden mienenversteinert und hochkehlig gebrüllt („Liiiinnnks uuummmm“, während sich der überwiegende Teil nach rechts dreht) und die immer gleichen Lieder intoniert. Ich liebe diese dorfbrauchtümliche Subkultur seit ich denken kann, keine Frage, aber gleichzeitig bietet sie auch so viel Nährboden für Realsatire. Früher stand ich montags stets tränenreich im Zelttorbogen und war fassungslos, dass Schützen-fest (in den meisten Fällen wird es ohne Artikel ausgesprochen) vorbei war. Die Wochen davor und die Tage danach prägen dorfkindliche Persönlichkeitsstrukturen.Es entstehen Geschichten, die für Jahre aktuell bleiben – alles dabei. Als König weißt du zudem nun, auf wen du dich verlassen kannst. Und auf wen nicht. Und dann ist es plötzlich da: DEIN Schützenfest! Der Vorabend des Königsabends läuft bereits leicht aus dem Ruder. Aufbauen und Schmücken (so die Idee). Es eskaliert zum ersten Mal (so die Realität). Das Motto „Wennze heute schon ´mal einen inner Krone hast, tut es morgen Abend nicht mehr so weh“ wird brav von allen befolgt. Also geht es am nächsten Morgen wieder zum Getränkehänder. Kühlwagen auffüllen.
Der Königsabend: Ein Traum!
Gut 250 Menschen mit feiertechnischem Eskalationshintergrund (inklusive Blasmusik und Spielmannszug) tummeln sich in unserer Einfahrt. 100 Kisten Bier, zwei Schubkarren leerer Schnapsflaschen, ein barfuß weggetanzter Sommerplatzregen – so die erste nüchterne Bilanz am nächsten Morgen. Sowie die Gewissheit einen Abend verlebt zu haben, den es in der Form nie wieder geben wird. Einfach nur großartig. Wahnsinn! Nach kurzer Schlafphase wecke ich meine Nachbarn mit der Titanic-Titelmelodie auf der Blockflöte. Alle freuen sich, glaub ich. Aufräumen. Frühschoppen (ich frühschoppe jetzt). Es eskaliert erneut. Ein absoluter Geheimtipp für innerer Frische: Rollmopswasser. Eigentlich sollte ich in einer guten Viertelstunde in der ersten Bank unserer Kirche zu Schützenmesse sitzen, denke ich mir noch, als ich zum Stopptauchen im Pool meines Nachbarn ansetzte. Jetzt aber los!
Puh, nicht eingeschlafen inna Messe. Absolute Höchstleistung in dieser Phase, wo Hirn, Leber und Restkörper von nun an getrennte Inte-ressen verfolgen. Und weiter geht’s: Totenehrung, Ständchen, Zapfenstreich. Ernst bleiben. Wer jetzt kichert oder redet bekommt einen in` Nacken oder so ein gebrülltgeflüstertes „Pssst“ von der anwesenden Restgesellschaft. Klatschen, wieder brüllt einer irgendwelche Kommandos, Regimentsgruß, klatschen. Ab ins Zelt. Königstanz. Jaaa, beim Walzer war ich sicherlich schon mal leichtfüßiger, dafür wird die Hüfte bei der anschließenden Vogelwiese wieder lockerer. Bin wohl eher der Polkatyp. Abendes-sen. Schnitzelparade. Die erste feste Nahrung seit den Würstchen von gestern Abend. Die nächsten Stunden ziehen wie ein Film an einem vorüber. Das Bestellmaß für eine Runde Bier heißt ab nun: Nen Träger! Händeschütteln hier, Küsschen da, tanzen, hüpfen, trinken, kollektives Ausrasten. Geradezu poetisch werden nun die Dialoge auf dem Herrenklo. Selbst wenn sich eine Frau hier in die letzte Stehpinkel-Bastion verirrt, weil sie keinen Bock hatte sich in die Schlange vorm Damenklo einzureihen, will sich das Niveau einfach nicht mehr heben. Und es riecht geradezu vorweihnachtlich. Musikalisch geht die Reise von Helene Fischer, über die Backstreet Boys bis zu ACDC. Früher saß auf der Musikbühne ne zehn Mann starke Bigband („Hömma, spielta abba auch ma was für de Älteren – und nich so laut, woll!“). Heute reichen drei Klangmacher – und nen Keyboard mit funktionierendem Discfach. Dem Feiervolk isses wurscht. Atemlos durch die Nacht. Eierbacken. Frühkonzert. Mitdasschönste (ein Wort) am Schützenfest. Eine Gänsehaut jagt die nächste. Wenn man Blasmusik mag. Dann noch schnell Mars der Medici mit der Knüppelmussik und ab nach Hause. Fettsuppe essen. („Damit kommse erstmal übern Tach, Junge!“) Festzug. Kaiserwetter und die Leute mögen dich scheinbar irgendwie. Parade. Wieder Königstanz. Heute läuft der Walzer schon flüssiger, glaub ich. Gratulation, Kuchen, Schnittkes. Erstmal `nen Wasser. Ne doch nicht.
„Mittagessen: Fettsuppe.
Damit kommse erstma
übern Tach, Junge!“
Kinderbelustigung und anschließend ne Runde mit dem Hofstaat ins Kinder-Flugzeug-karussell. Eigentlich reicht es für heute. Trotzdem geb ich mir nochmal die gleiche Musik von gestern Abend auf die Ohren, obwohl ich es nur gehtso gut finde. Am Zaun (unser kleinkultur-gesellschaftliches Zentrum in besagter Party-Einfahrt) gibt es später noch nen Scheidebecher. Gefühlte (und reale) drei Stunden später steht eine Spaß-Blasmusik-Combo aus dem Nachbardorf vor unserer Tür: Weckruf. Die ersten Minuten verraten dem erfahrenen Weckrufer bereits: Jau, es wird nochmal schnapslastig heute („Gib denen abba erstmal den, der eh wech muss!“).
Bei vielen der jetzt noch anwesenden kann man die letzten drei Tage buchstäblich im Gesicht ablesen. Nochmal kämpfen, Schützenfest ist nur einmal im Jahr (oléolé, oléola).
Vogelstange, Ehrenschuss und dann plötzlich: Feierabend…bumms…das wars! Ein anderer bekommt meine Kette, auch das Krönchen wechselt die Frisur. „Heute ein König, morgen ein Arsch“, beschrieb ein altgedienter royaler Amtskollege aus dem Hochsauerlandkreis diesen Moment der öffentlichen Degradierung zurück zum einfachen Menschen.
Ich selbst erlebe diesen unter einem Haufen Stroh. Königsbeerdigung. Nur auf der Ahnentafel werde ich einst noch als König zu finden sein. Wie schrecklich. Darauf erst ´mal einen weiteren Kümmerling und noch `nen schales Pils, das mittlerweile von unten ans Zäpfchen klopft mit dem dezenten Hinweis: Ähhh, bis hier hin ist schon voll!Mein Sohn wird an diesem Tag Jungschützenkönig. So findet in unserem ehemaligen Dorfpalast wenigstens kein kalter Entzug statt. Er selbst nutzt sein Amt leider für den ersten Vollrausch seines Lebens aus. Die teuer bezahlten Schnitzel und Currywürste landen in einer Melange aus Bier und Maracujaschnäpschen auf unserem frisch verlegten Holzboden.Gut, dass er König ist, sonst müsste ich mich aufregen. Aber, is ja Schützenfest… die Universalentschuldigung auf Zeit – für ALLES! Ich atme noch einmal tief durch, schaue auf mein ehemaliges Reich und lege mich in Uniform direkt auffe Couch. Helm ab zum Gebet. Horrido und Gute Nacht, woll! ■
 
Von Pascal Wink