Mit der Zeitmaschine einen Ausflug als über 80-jährige unternehmen

WOLL Sauerland Ageman

„Die ewige Jugend“ ist ein leeres Versprechen. Trotz rasanten medizinischen Fortschritts, trotz kosmetischer Wundermittel, trotz des vermeintlich sportlichen Ehrgeizes, der die Massen bewegt und dem wir uns – seien wir mal ehrlich – manchmal nur unwillig beugen. Wie schön ist es doch, in Eintracht mit dem inneren Schweinehund einfach mal faul zu sein, sich nicht zu kümmern um Falten und Fitness. Aber der Mensch der modernen Gesellschaft tut auf Teufel komm raus alles, um möglichst spät in den Himmel zu kommen. Cremt, läuft, joggt, walkt, schwört Bier und Bratwurst ab. Das Streben nach einem möglichst fitten Abgang im hohen Alter und am besten kurz und schmerzlos ist menschlich. Wer wünscht sich das nicht.
Während in der Steinzeit die Lebenserwartung 25 Jahre betrug, im Mittelalter eine mittlere Tuberkulosewelle reichte, um großen Bevölkerungsteilen das jähe Ende zu bringen, und man sowieso mit 35 Lenzen einem Methusalem glich, werden heute viele Menschen weit über 80 Jahre alt. Mit neuen Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme, die Wirtschafts-, Arbeits- und Bildungspolitik, die Stadt- und Verkehrsentwicklung. Mit Verlaub: Es wird nicht alles schlechter, es wird einfach anders. Der oft zitierte demografische Wandel ist eine Aufgabe, die unsere Gesellschaft meistern muss – da gibt es kein Entkommen. Alleine ein Drittel der über 85-Jährigen ist heute pflegebedürftig. Davon wird ein Großteil in der Familie umsorgt – aber diese traditionellen Netzwerke haben ihre Grenzen.
Stimmen wir uns an dieser Stelle mal ganz optimistisch und gehen davon aus, dass uns kein schweres krankhaftes Übel erwischt. Akzeptieren müssen wir aber, dass es wider jede Anstrengung keine ewige Jugend gibt und nie geben wird. Die Zipperlein kommen, so oder so. Der eine hat Rücken, der andere Knie, der nächste sonstige Maläste. Und über allem wird es sowieso mit der Mobilität, der Sensorik und der Sensibilität immer weniger. Wie aber fühlt man sich in 20, 30 oder auch 40 Jahren? Eine Antwort darauf liefert der AGEMan®, eine Art Zeitmaschine, die den Benutzer in wenigen Minuten ins hohe Greisenalter versetzt. Kein abgefahrener Apparat, sondern ein Anzug, in dem man vom Aussehen her mit Armstrong, Aldrin und Collins fast hätte auf den Mond fliegen können. WOLL will nicht ins All, sondern die Perspektive wechseln und mit Schallgeschwindigkeit in die Zukunft. Bei der Geschäftsstelle des Caritas-Verbandes des Kreises Olpe darf ich besagten Anzug ausleihen und ausprobieren. Für meinen Selbstversuch fahre ich nach Drolshagen. Hier gibt es das Seniorenzentrum St. Gerhardus, mit einem großen Park für einen Spaziergang, und hier gibt es einen netten Lebensmittelmarkt, in dem ich einkaufen will. Begleitet werde ich dabei von den Mitarbeiterinnen der örtlichen Caritas-Station. Und das tut in dem Fall richtig gut – denn es ist gar nicht so einfach, mit dem Alter auf Tuchfühlung zu gehen.
Der AGEMan®, entwickelt vom Meyer-Hentschel Institut in Saarbrücken, besteht aus vielen Einzelteilen, die, zusammen genommen und in Kombination am Körper getragen, die Handicaps, Probleme und Schwierigkeiten älterer Menschen erleben lassen. Spezielle Bandagen an Armen, Beinen, Hals und Lendenwirbel schränken die Beweglichkeit ein, zusätzliche Gewichte simulieren die schwindende Muskelmasse. Dazu kommen Ohrenschützer, die die Frequenz dämpfen, ein Visier mit gelber Spezialfolie für getrübtes Sehen und Handschuhe, die Fingerfertigkeit und Feinmotorik einschränken. Als Zugabe gibt es am Handgelenk noch einen Tremor-Simulator.
Insgesamt gute zwölf Kilo schwerer, mit steifen Gelenken und eingeschränkten Sinnen starte ich also meinen Ausflug als über 80-Jährige. Zur Stärkung für das mir bevorstehende Ereignis möchte ich zunächst einen Kaffee trinken. Aber die feine Henkeltasse will aus den zittrigen Fingern gleiten, ich zappel, und überhaupt hätte ich ihn ohne Milch trinken müssen. Wie um alles in der Welt soll ich das kleine Portionsdöschen öffnen? Der Kaffee bleibt also stehen und ich gehe lieber sofort auf die Straße und in den Park. Dabei wird jeder Schritt zu einem Kraftakt. Die eingeschränkte Sicht und scheinbar einheitliche Farben lassen Stufen und unebene Pflastersteine nur schwer erkennen, das glatte Treppengeländer lässt sich nicht richtig fassen und gibt keinen Halt. Ich habe Angst, danebenzutreten und zu stolpern. Und Menschen, die mich im Park ansprechen, verstehe ich nur schlecht und wecken in mir das Gefühl, ausgeschlossen zu sein.
Ich mache mich schließlich auf den Weg zum Tante-Emma-Laden um die Ecke. Hier ist die Verkäuferin nett, freundlich, aufmerksam und hilfsbereit und vor allem: Sie hat Zeit! Trotzdem, so ganz einfach ist das mit dem Einkaufen nicht. Mir fehlt die Orientierung. Glasflaschen, die in den oberen Regalen stehen, fasse ich gar nicht erst an und auch die schweren Suppendosen, die ganz unten stehen, machen mich mutlos. Meine Kraft und meine Beweglichkeit reichen einfach nicht aus. Mit Schrecken stelle ich mir vor, wie es wohl in einem großen Supermarkt mit endlos hoch gestapelten Waren, ohne aufmerksame Bedienung und mit ungeduldigen Kunden an der Kasse wäre. Als ich bezahlen will, brauche ich eine halbe Ewigkeit, um mein Kleingeld aus der Börse zu kramen. Ganz schön stressig!
Nach einer Stunde ist mein Experiment vorbei. Ohne den Anzug komme ich mir unglaublich leicht vor. Ich habe die Einschränkungen des Alters in geballter Form erlebt. Tröstlich, dass man sie später nicht unbedingt in dem Maße und erst recht nicht so bewusst spürt. Denn man wächst ja sozusagen rein. Mir aber fallen tausend und eine Sache ein, die für eine seniorenfreundliche Welt wichtig wären. Und mein innerer Schweinehund muss nun auch öfter alleine auf der Couch jaulen.
von Birgit Engel [Text/Fotos]
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